Dienstag, 13. Oktober 2009




Dali, 11. Oktober 2009

Sonntagmorgen. Dali verabschiedet sich mit strahlendem Sonnenschein, doch auch heute wollen sich die Gipfel des benachbarten Cang-Shan-Gebirges nicht enthüllen, weshalb ich sie in ihrer mysteriösen, wolkenumhängten Schönheit zu skizzieren versuche. Ein Spaziergang führt mich ein letztes Mal durch die Stadt. Ich entdecke einen sehr schönen öffentlichen Park gleich um die Ecke. Hinter hohen Mauern ist er verborgen, weshalb ich glaubte, dass dies eine weitere gebührenpflichtige Sehenswürdigkeit sei. Der Park ist zwar klein, aber sehr gut gemacht, kein alter Park, viele intime Ecken, in denen man verweilen kann. In einem dieser Winkel treffe ich die Vogelfreunde, eine merkwürdige Spezies auch in China. Alle sind sie mit ein bis mehreren Vogelkäfigen gekommen, die beim Transport mit einem Tuch verhüllt werden, und haben nun diese in Bäume und Büsche aufgehängt. Braune amselgrosse Vögel sitzen darin mit weissem Augenring, sonst sind sie unspektakulär. Die Männer wiederum, ich entdecke auch eine Frau, haben sich sorgfältig gekleidet und lauschen nun andächtig dem Gesang ihrer Vögel. Später entdecke ich auch eine Art Doppelkäfig. Auf jeder Seite des Gitters wird ein Vogel hinein gelassen. Ich denke erst, es gehe wohl darum, die sozialen Kontakte der Tiere etwas zu fördern, Männlein und Weiblein dürften sich zwischendurch nahe sein, das hebe sicherlich die Singfreudigkeit. Und entdecke dann später, dass alles Männlein und Rivalen sind, wütend fliegen manche Vögel ans Gitter und würden sich ohne dieses wohl gleich zerfetzen. Doch wenn sie sich etwas beruhigt haben, fangen sie zu singen an, ein Wettkampf beginnt. Würdig beobachtet von den ernsthaft dreinblickenden Besitzern.

Ich wähle Reisnudelsuppe zum Frühstück. Reisnudeln haben die Eigenart etwas zu kleben, was das Verspeisen enorm vereinfacht. Doch auch so besteht ein Risiko von Spritzern, die Flüssigkeit ist rot gefärbt vom Chili. Weil ich bereits eine neue Bluse angezogen habe für den bevorstehenden Flug nach Jinhong stresst mich nun meine Frühstückswahl etwas. Ich hätte besser warme gedämpfte, etwas fade Brötchen gewählt. Oder in Fett frittierte Teigwürstchen, nicht süss, mit warmer Sojamilch, durchaus eine gute Frühstücksvariante.

Jinhong. Die subtropische Stadt am Mekong, nach knapp 50 Minuten Flugzeit. Hinter den sieben Bergen, denke ich. Doch weit gefehlt. Auch Jinhong hat einen neuen Flughafen und die Stadt selbst ist wohl gerade daran, sich neu zu definieren. Gebaut wird wie verrückt, das Terrain entlang dem Mekong – die Stadt stiess bisher nicht ganz ans Wasser – wurde durch einen Damm geschützt, ein Park am Ufer ist in Entstehung und dahinter riesige Baufelder. Hochhäuser nach chinesischem Stil. Kitschig für mich, doch hier gefällt das. Ich selber wünsche mir da den Retrostil von Dali zurück, mit menschlicheren Dimensionen. Auch nicht ideal, doch so stark an die alte Architektur angelehnt, dass nicht allzu viel schief gehen kann. Hier eine Mischung zwischen Buddhistischen Tempeln, kitschig-bunt bereits die, und Hochhäusern. An den neuen Gebäuden haben selbst Drachenfiguren ihren Platz und nutzlose kleine gebogene Dächer als Dekoration. Und die Fassaden sind bunt. Beliebt ist momentan Zitronengelb, nebst einem furchtbaren Blassorange, einem Pistachegrün oder Rosa. Fensterrahmen wenn möglich noch in einer weiteren Farbe. Ich persönlich wünsche mir da ob so vielem Gestaltungswillen ganz heimlich die kommunistische Eintönigkeit zurück. Weiss oder Grau, keine Extravaganzen, auch von der Gestaltung her.
Mit einem Wort: Jinhong ist eine hässliche Stadt, lärmig ebenfalls, viel Verkehr, doch zum Glück nicht allzu gross, das Zentrum ist recht rasch durchschritten. Und das tropische Grün, all die Alleebäume, häufig sind es auch Palmen, mildert das ganze auf ein erträgliches Mass herab.

Eigentlich wusste ich es: Nach zwei sehr geglückten Destinationen, Shaxi und Dali, mit tollen Hotels und Restaurants auch, da musste wieder einmal etwas Ernüchterndes kommen. Eine echt chinesische Stadt eben. - Und doch auch wieder nicht, die Tropen sind hier fühlbar, Männer die in den Parks herumliegen, das erinnert mich stark an Sansibar. Und am Abend, als ich durch eine hell erleuchtete Einkaufstrasse mit teuren Schuh- und Kleiderläden gehe, da bin ich doch wieder erstaunt. Reich scheinen die Bewohner zu sein. Ein Gefühl, das ich in den meisten chinesischen Städten habe. In China gibt es auch keine Slums, ich habe noch nirgendwo einen Armengürtel rings um die Städte gesehen.

Jinhong hat durchaus auch positive Seiten. Ich bemerke erfreut, dass ich jedes Mal, wenn ich in ein Lokal hinein gehe, erst ein kühles Glas Wasser mit einem Limettenschnitz kriege. Noch bevor ich etwas bestelle. Eine schöne Geste. Und die Kellnerin in dem Lokal aus meinem Führer, das ich in Ermangelung eines Hotels, das mir gefallen hätte, erst einmal anlaufe und frage, ob ich den Koffer dort deponieren könne, die reicht mir eine Kopie eines Stadtplanes und dann führt sie mich auch noch zu den Hotels. Alleine hätte ich das kaum gefunden, so vieles hat sich bereits geändert, seit dem Druck meines Führers. Ich wohne nun in einem sehr chinesischen, einfachen Hotel, Sicht auf einen belebten Innenhof, ohne Charme, dafür enorm billig und sauber, sogar mit Arbeitstisch, in China eine Rarität. Und nachdem ich die Glanzidee gehabt habe, eine stärkere Glühbirne zu kaufen, sogar mit durchaus passablem Leselicht, normalerweise einer Schwachstelle in hiesigen Hotels. Allerdings heizt die gekaufte Glühbirne enorm auf, was mich etwas ängstigt, doch auch das Netzstück meines Labtops wird in China feuerheiss. Nicht genau die richtige Stromspannung, meinte Mr.Paterson. Deshalb weniger wirksam und mehr Verluste in Form von Wärme.




Dali, 10. Oktober 2009

Endlich habe ich mich für einen Weg entschieden. War das ein Kampf und ein Unwohlsein. Gestern habe ich mich hinter den Reiseführer geklemmt, um zu planen wie meine Reise weitergehen soll, denn es wird mir bewusst, dass nur noch drei Wochen bleiben, es muss ausgewählt werden, da wäre noch so vieles, das ich gerne gesehen hätte. Ich habe nun - Schande über mich – zunächst eine bequeme Variante ausgewählt. Eigentlich wollte ich mit dem Bus über die Gebirge vom Tal des Yangtse in das Tal des Mekong hinüberreisen. Allerdings wird dies als recht beschwerliche Busfahrt von 2 bis 5 Tagen beschrieben. Durch sehr malerisches und unberührtes Gebiet. Hier in Dali Gucheng, der Altstadt, hätte ich nur einen Luxusbus buchen können, der in 18 Stunden über Nacht dort hinunter gefahren wäre. Da hätte ich aber nichts von der Landschaft gesehen, das machte keinen Sinn. Nun habe ich ein Flugticket gekauft, Sonntag Mittag fliege ich erstmals chinesisch und am Nachmittag bin ich bereits im subtropischem Klima 500km weiter südlich.
Auch bei diesem Entscheid kommt mir Laotse in den Sinn. So viele Wege sind immer offen. Und alle können richtig oder falsch sein, das kommt wohl immer auf einen selber an. Was nützt es, sich den Kopf zu zerbrechen und die beste Variante ausfindig zu machen? Es gibt keine beste Variante. Und mein Blickwinkel ist sowieso hauptsächlich derjenige von Stefan Loose, Reisebuchherausgeber aus Berlin. Seine Tipps fand ich nicht immer genial, oft fand ich zufällig viel besseres. Und würde eigentlich allen Asienreisenden empfehlen, den „Lonely Planet Guide“ zu wählen. Der ist zwar grafisch weniger schön gestaltet (was schlussendlich bei mir den Ausschlag gab, anderes konnte ich ja beim Kauf nicht überprüfen), aber ungleich viel nützlicher ist. Allerdings in Englisch.

Zögern ist eine Plage beim Reisen. Verlieren ebenfalls. Ein Laster, das ich einfach nicht los werde. Als erstes, bereits nach einer Woche, liess ich mein schönes, aus einem indischen Reissack selber gemachtes Labtoptäschchen im Restaurant liegen. Es war später nicht mehr dort. Als zweites liess ich beide Ladegeräte, ich habe mein normales Telefon und ein Telefon mit einer chinesischen Nummer, in den Steckdosen auf dem Schiff durch den 3-Schluchtenstausee stecken. Das merkte ich erst bei Bedarf in Chonqing. Ich finde es übrigens sehr empfehlenswert, hier ein Telefon mit einer chinesischen Nummer zu haben. Man kann einfach selber Hotels reservieren und die verlangen oft auch eine Nummer, weil wohl viele Leute nur buchen, dann aber gar nicht kommen. Auch beim Geld wechseln auf den Banken ist diese Nummer hilfreich, man muss dann nicht immer den Namen des Guesthouses kennen, in dem man gerade logiert. Dies führt mich zu einer Beobachtung, die ich hier täglich mache. Wenn irgendetwas auf dieser Welt wirklich international sein sollte, dann sind es die Klingeltöne der Natels. Den Standart-Nokia-Ton, den ich über Jahre verwendet habe, den höre ich hier überall. Ganz offensichtlich ist es den Chinesen – abgesehen von den Jugendlichen – genauso wenig wichtig wie mir, da Originalität zu zeigen.
Zum jüngsten Verlust schliesslich. Gestern habe ich meine Schirmmütze, die mich jahrelang begleitet hat, auf einem Spaziergang liegen gelassen, als ich sie auszog um mich des Pullovers zu entledigen. Eigentlich hätte ich noch ziemlich genau gewusst wo, ein paar hundert Meter weiter oben im Wald. Fand es dann aber doch nicht wert, zurückzukehren, schliesslich habe ich vor zwei Wochen einen chinesischen Hut gekauft. Auch soll man nicht an materiellen Dingen hängen, dies lernt mich ebenfalls Laotse. Und wenn ich so weiter mache und weiser und weiser werde, dann komme ich vielleicht vollkommen ohne Ballast zurück in die Schweiz.

Heute sehe ich erstmals Schulkinder in Uniformen. Die Älteren tragen einen blauen Anzug, vom Schnitt her etwas zwischen Uniform und Matrosenanzug. Die Kleinen eine Art Traineranzug, entweder rot und weiss oder grün und weiss. Samstag scheint mir ein komischer Tag für den Schulbeginn.

Ich besuche das Museum im Zentrum der Altstadt. Die Wächter sitzen halb schlafend an ihren Pulten, ich bin die einzige Besucherin, das Licht in den Vitrinen wird nicht angezündet. Der Eintritt kostet auch nur 5 Yuan, also 90 Rappen. Die echt alten, teilweise zerbrochenen Sachen hier interessieren offensichtlich kein Schwein. Während die vielen kürzlich erst nachgebauten kitschigen Tempelanlagen tausende von Besuchern anziehen, da bezahlen Chinesen gerne ein Vielfaches dafür, Busladungen voller Leute werden dorthin gekarrt. Im Museum hat es alte Keramikfigürchen aus der Ming Zeit, witzige Tierfiguren zum Teil, und natürlich Reiter mit wilden Rössern. Im Garten rund um das Museum, der übrigens sehr schön gestaltet ist, stehen alte Steintafeln mit Schriften darauf, ich vermute, dass es sich um Grabtafeln handelt, leider ist das meiste nur Chinesisch angeschrieben. Was auch seinen Vorteil hat. Wie häufig wird meine Aufmerksamkeit abgelenkt durch dieses ewige Lesen! Einfach nur schauen und bewundern ohne wissen zu müssen. Ich geniesse das. Im weiteren wird im Museum eine Fotoausstellung gezeigt mit grossen schwarz-weiss Portraits von alten Leuten. Viele interessante Gesichter, eine gute zeitgenössische Fotoarbeit. Interessant finde ich vor allem auch den Raum mit den Bai-Batiken. Seit längerem sind mir diese Stoffe aufgefallen. Meist sind sie blau, mit fein eingearbeiteten Mustern, die – wie ich jetzt lerne - durch das Abbinden von zum Teil winzigen Zipfelchen entstehen. Meisterhaft gearbeitete Stoffe – auch wenn sie nicht ganz meinem Geschmack entsprechen. Auf den Fotos im selben Raum stelle ich endlich fest, welches nun wirklich die Bai-Trachten sind, denn es gibt hier so viele verschiedene Ethnien. Die Bai-Frauen tragen mehrere, hintereinander gelagerte hohe, kronenartig aufgesetzte, dicht bestickte breite Bänder auf dem Kopf. - Obwohl ich denke, dass dies nur gerade die Festtracht ist, ich habe die Frauen im Dorf meist mit viel einfacheren, turbanartigen Gebilden auf dem Kopf gesehen. Diese aufwändigen Kopfbedeckungen sieht man heute eigentlich nur noch beim Personal von gehobenen chinesischen Hotels. Oder bei den Angestellten eines Supermarktes. Oder bei den Hostessen, die die Luxusbusse begleiten und am Anfang einer mehrstündigen Fahrt die Billets kontrollieren und ein Fläschchen Wasser verteilen. Was sie im Weiteren zu tun haben, ist mir nicht klar.

Hier in Dali hat es auffällig viele Studios, die Massagen anbieten, Füsse, Körper, Kopf, auch Thaimassagen und viele Ort preisen sich als medizinisch wirksam an. Alles hier auch in englischer Schrift angeschrieben und gut doppelt so teuer, wie ich mir das gewohnt bin. In meiner Strasse sehe ich mehrere Kosmetikinstitute, die nicht mit unseren Buchstaben angeschrieben sind. Ich habe Lust, mich verwöhnen zu lassen und dieses Erlebnis auszutesten. Auf eine Liege werde ich gebettet, warm zugedeckt und während einer Stunde werden mir nicht nur verschiedenste Salben, Packungen und Wässerchen aufgetragen, nein auch das Gesicht, die Kopfhaut, der Nacken und schliesslich Arme und Rücken massiert, so dass ich den Salon nach einer guten Stunde völlig entspannt und natürlich viel schöner verlasse. Das ganze hat fast nichts gekostet, wenn ich die verschiedenen teuren Cremen noch davon abziehe, wurde aber eben auch nur auf chinesisch angeboten, die Frau sprach kein Wort Englisch. Was mich überhaupt nicht gestört hat, im Gegenteil. Während der ganzen Behandlung sprach sie mit ihrer Kollegin, die gerade nichts zu tun hatte und der Fernseher lief. Da war ich recht froh, dass die Gespräche nur eine Geräuschkulisse für mich bildeten.
In derselben Strasse habe ich auch erstmals in China Prostituierte angetroffen. Das läuft recht diskret: In kleinen Räumen im Parterre, die Türen sind nur halb geöffnet, sitzen auf Sofas junge Frauen vor einem Fernseher. Das Licht im Raum ist düsterrosa. Auffällig ist das ganze nicht, auch die Freier sind kaum bemerkbar.
Aber vielleicht stimmt ja auch, was mir die hysterische Amerikanerin in Lijiang anvertraut hat. Sie denke, bei chinesischen Männern, da laufe nichts in Sachen Sex. Da habe sie doch in Peking eine rund vierzigjährige Frau angetroffen, die ihr erzählt habe, ihr Mann habe seit einem Jahr nicht mehr mit ihr geschlafen. Das solle man sich einmal vorstellen! Und überhaupt spüre man das, in Italien oder Ägypten oder sonst wo auf der Welt, da würde man von den Männern beachtet, da passiere etwas. Doch hier, da habe sie noch nicht das Geringste verspürt. Und gleichzeitig beklagt sich die Amerikanerin darüber, dass es hier in den Hotelzimmern gratis Kondome hat, sowas habe sie noch nirgends auf der Welt gesehen. Was für eine Heuchlerin!

Zum Abschluss noch etwas Poesie der chinesischen Sprache: Diàn ying besteht aus zwei chinesischen Schriftzeichen. Wobei diàn elektrisch bedeutet und ying Wolke. „Elektrische Wolke“, ist die Bezeichnung für Film. Sprache hat eben schon sehr viel mit der Art des Denkens zu tun.

Montag, 12. Oktober 2009







Dali, 8. Oktober 2009

Die Stadt Dali ist keine perfekte Schönheit, eine mit Ecken und Kanten. Innerhalb der Stadtmauern, die eine riesige Fläche umfassen, gibt es wohl noch einige alte Gebäude, doch auch recht viele lieblose, aber nicht allzu grosse Wohnhäuser aus kommunistischer Zeit. Im Zentrum ein Kreuz von Strassen, die touristisch aufgemotzt worden sind, aufgewertet, würde das wohl heissen, neue Häuser im alten Stil ersetzen das Charakterlose, Läden und Reisebüros und Restaurants sind hier eingezogen, Hotels und Gasthäuser. Doch dies ist erst eine kleine Ecke, die sich aber wie ein Krebsgeschwür auszudehnen droht. Momentan lebt Dali noch, ist kein Ethnokitsch-Freilichtspektakel wie Lijiang. Sobald man aus diesem Zentrum heraus ist, beginnt das normale Leben, Handwerker haben sich angesiedelt, Garküchen immer, viele, aber sehr einfache, und Läden mit Werkzeug, mit Baumaterial oder mit Haushaltsgegenständen. In einer Strasse weit draussen werden gerahmte polierte Marmorplatten verkauft, eine Kunstform, die mir für China ganz eigen scheint. Auf diesen Steinstücken bildet die Maserung etwas wie eine Landschaft ab. Abstrakte Muster eigentlich, vom Zufall bestimmt, doch es ist wahr, man sieht sofort mehr darin, die wunderlichsten Bilder treten hervor.
Auch in Dali wird überall kräftig gegraben und gebaut, ganze Strassenzüge werden umgekrempelt, Leitungen verlegt, ich sehe nebst Abwasserleitungen auch mehrere dicke Kabelrohre für Glasfaserleitungen, und am Schluss wird das ganze dann auf alt gepflästert. Bäche werden freigelegt, weit schöner als beispielsweise in der Altstadt von Bern. Sie fliessen offen am Rand der Strassen von von mit Steinquadern gefassten Mauern begrenzt, Dali liegt an einem flach geneigten Hang, das Wasser sprudelt dem See zu und wird dabei von vielen grossen, schön geformten und überhaupt nicht zufällig in das Bachbett gelegten Steinen geleitet. Daneben ein gepflasterter Fussweg, junge Trauerweiden wurden eingepflanzt.

China macht ganz gewaltige Anstrengungen in Sachen Verschönerungsaktionen. Vor allem hier in der Provinz Yunnan. Chinesen vom ganzen Land kommen, um ihre Sehnsucht nach Ursprünglichem zu stillen. Einzig hier, in der lange Zeit sehr abgelegenen Gegend mit vielen Minoritäten, Naxi, Bai und Yi, die Berge erschwerten den Zutritt, hat sich noch Altes erhalten können. Im übrigen China wurde während der Kulturrevolution Historisches zerstört als Zeuge einer bourgeoisen Zeit, die vorüber sei und vergessen werden solle. Alle Verschönerung galt als reaktionär. Die langweiligen Einheitsbauten - für alle dasselbe - wurden im grossen Stil aufgestellt und verdrängten in vielen Landesteilen die historischen Gebäude, deren Wert man nicht sah. – Doch nun scheint alles anders. China hat seine Geschichte wieder entdeckt und ist stolz darauf. Und hat offensichtlich einen riesigen Nachholbedarf. Zerstörtes wird munter wieder genau gleich aufgebaut, allerdings nicht immer mit den ursprünglichen Baumethoden, Theaterkulissen werden es dann, was mir nicht immer sehr geglückt erscheint. Ganz besonders in Yunnan, der Vorzeigeprovinz Chinas. Immerhin sehe ich in Dali doch erstmals Versuche, die alten Architekturstile neu zu interpretieren, mit modernen Gestaltungselementen zu vermischen. Nicht alles gefällt mir, doch der Ansatz ist spannend.

Auch ich wohne hier in einem nachgebauten Bai-Haus. Das steht etwas abseits vom Zentrum hinter zwei Wohnblöcken im Sowjetstil, niedrig sind die zum Glück nur, der Fassadenputz ist bereits fast gänzlich abgeblättert. Und die Frauen waschen ihre Kleider und das Gemüse bei der Wasserstelle davor, wo mit Eimern Wasser aus dem Sodbrunnen gezogen wird. Offensichtlich gibt es in den Häusern kein fliessendes Wasser. Das Bai-Guesthouse grenzt zwar direkt und sehr nahe an dieses Quartier, doch der Baustil der Bai macht, dass es wie eine kleine Insel dazwischen steht. Die Bai bauen ihre Häuser nämlich immer um einen Innenhof herum, alle Fenster und Öffnungen sind auf diesen ausgerichtet und gegen den Hof zu gibt es Terrassen. Ich habe mein Zimmer auf dem obersten Geschoss gewählt, mit direktem Zugang auf die Dachterrasse und Blick zu den Bergen. Es ist ein sehr schöner Ort, ein alter Mann bringt immer seine Käfige mit den Singvögeln herauf, die zwischendurch extrem laut trällern, was ihn sehr zu bewegen scheint, oder er schnipselt mit einer Schere an den vielen und vielfältigen Topfpflanzen herum, die überall herum stehen. Das ist mir bereits bei den Naxi aufgefallen – deren Häuser übrigens sehr ähnlich sind – diese Menschen lieben Pflanzen ausserordentlich. Und Tiere ebenfalls – auch wenn uns diese Käfighaltung grausam erscheinen mag. Ich glaube nicht mehr, dass Chinesen grob zu Tieren sind, ich habe nie gesehen, dass sie diese Schlagen oder ihnen absichtlich Schmerzen zufügen, das ist eine falsche Vorstellung. Was hier hingegen fehlt, ist das Verständnis für Tiere, man fühlt sich nicht in sie hinein, versucht nicht wie wir, ihre Bedürfnisse zu verstehen und zu befriedigen. Doch absichtlich quälen, nein, das glaube ich nicht, Tiere sind ihnen wichtig. Und wenn ich die fetten Schweine in ihren Ställen, immerhin dick mit Stroh ausgelegt, gesehen habe oder auch manchmal, wie sie im Dorf etwas herumspaziert sind, dann hatte ich eigentlich immer das Gefühl, dass es denen besser geht als den Tieren in Zuchten bei uns. Weshalb ich Schweinefleisch auch ohne Bedenken esse, es schmeckt ganz ausgezeichnet.
Und die Fische, die in Becken mit sehr wenig Wasser auf dem Markt nach Luft schnappen? Chinesen lieben eben ihre Nahrung möglichst frisch, auch Hühner werden lebendig verkauft. Dass ein Fisch dabei leiden könnte, daran denken sie nicht. Dass auch ein Fisch Schmerzen oder Angst empfinden könnte. Hier sieht man sehr selten kranke und verletzte Hunde und Katzen in den Strassen, die meisten Tiere sind wohlgenährt und gesund – mindestens viel gesünder, als dass ich dies in Afrika oder Südamerika gesehen habe. Am schlimmsten ist es eigentlich mit Pferden und Eseln, die häufig von Sattel und Zaumzeug grosse offene Wunden haben. Doch auch hier, denke ich nicht, dass man dies Brutalität nennen kann, die Tiere werden nicht geschlagen oder absichtlich gequält.

Der Weg ist das Ziel, sage ich mir, als ich den Hang hinaufsteige, erst durch bewohntes Gebiet, später dann durch Gebüsch und Kiefernwälder, in Gabelungen immer dem breiteren Weg folgend. Hier ist es sehr schwierig zu planen, wohin man gehen will, denn etwas wie Wanderwege gibt es nicht. Zwischendurch allerdings – doch das ist eben auch nur in chinesischen Schriftzeichen angekündigt – kommen Waldstücke, die nicht mehr wirkliche Natur sind, es wurde eingegriffen, gerodet, geschnitten, grosse Steine eingesetzt und geschwungene gepflästerte Wege und Treppen angelegt. Ich bin in einen Hang geraten, der offensichtlich gestaltet wurde. Ein Restaurant steht irgendwo, ein paar moderne Häuser mit grossen Fenstern und Steinfassaden wie im Tessin, sind auf der Fläche verteilt, ich vermute, dass es sich um Ferienvillen handelt. Ich folge dem Pfad immer weiter, obwohl mir der Spruch von Laotse, ich bin im Moment daran, das „Tao Te King“ zu lesen, im Kopf klingt: Der Weg ist das Ziel. Es ist nicht wichtig anzukommen. Es ist nicht gut zu wollen, man muss den Dingen ihren Lauf lassen. Eigentlich sollte ich umkehren, ich habe keine Ahnung, wohin mich dieser Weg führt. Doch genau dies ist für mich schwierig, weiter und weiter hinauf will ich. Bis der Weg dann schliesslich in eine Holzplattform mündet und gerade vor einem Wasserfall mit kristallklarem Wasser aufhört. Ich habe das Ziel gefunden, das Umkehren fällt nun einfach.
Ich bin noch nicht reif für das Tao, das ist mir klar. Auch beim Zeichnen nicht. Wohl gelingt es mir in China merkwürdig gut, nicht zu wollen, in einer Art Automatismus, vielleicht auch Trance zu malen, ohne bewusst zu denken, genau so wie man ein Auto fährt. Und mich dabei wohl zu fühlen, es ist ein sehr angenehmes Gefühl, wenn das gelingt. – Nur ist es bei mir überhaupt nicht so, dass dabei die besten Resultate entstehen, wie dies Laotse postuliert. Erst wenn man nicht wolle, nicht kontrolliere, den Dingen ihren Lauf lasse, könnten geniale Sachen entstehen. Ich bin mir nicht sicher über diese Theorie. Wenn sie wirklich stimmt, dann bin ich mit meinen Talenten und Fähigkeiten eben noch meilenweit davon entfernt, ein Meister zu sein.
Dali, 7. Oktober 2009

„Alles was am Himmel fliegt und was man sehen kann, ausser Flugzeuge, alles was in Flüssen und im Meer schwimmt, ausser U-Boote, alles was auf vier Füssen auf dem Boden steht, ausser Tische und Stühle – alles das essen Chinesen.“ Das habe ich bei Xinran gelesen, einer chinesischen Schriftstellerin, die nun in England lebt.
Und denke daran bei meinem ersten Rundgang in Dali, der Stadt, die es etwas schwer hat nach dem friedlichen Landleben in Shaxi. Das Hotel, das ich gebucht habe, ist ein Youth Hostel ohne Charme, bzw. mit chinesischem Charme, kitschiger Teich und Affen in winzigen Käfigen, die Toiletten sind schmutzig und Zimmer mit privater Toilette gibt es nicht. Ich verabschiede mich und bin ausnahmsweise bereit, mein Budget extrem zu übersteigen und für eine Nacht in einem Gasthaus abzusteigen, das ich in meinem Führer finde. Für rund 60 Franken pro Nacht. Schliesslich habe ich die letzten paar Tage mit meinem 6 Franken Zimmer genügend gespart. Das hatte zwar auch keine privaten Toiletten, doch war es extrem sauber und angenehm. Für eine Nacht bin ich nun in einem teuren Touristenhotel im Ethno-Kitschstil - „Jim’s Tibetan Inn“ heisst es - einquartiert. Ich bin nicht bis ins Tibet gekommen und kann deshalb nicht urteilen, doch nach meinem Geschmack ist das nicht. Und beklage mich nun hier ungeniert, dass Duschwasser sei nicht warm genug, die Solarheizung hat es für heute nur ungenügend gewärmt. Worauf man den Boiler einschaltet, ich stelle den Heizradiatoren ein, etwas, das es zum ersten Mal im Zimmer hat, und richte auch hier erst das ganze Zimmer neu ein. Eine Leidenschaft von mir. Ich kann mich in einem Hotelzimmer nur nach dieser Zeremonie zuhause fühlen. Und habe dabei ein paar Eigenheiten chinesischer Hotelzimmer festgestellt. Häufig stehen die Betten mit dem Kopfteil Richtung Fenster, so dass man aufgerichtet die Wand anstarrt. Das ist natürlich komplett falsch, im Bett sitzend, möchte ich zum Fenster hinaus schauen. Weshalb ich immer erst etwas arbeiten muss. Sei es auch nur für eine Nacht wie hier.

Zurück zu Xinran, bzw. dem Essen. In Dali Gucheng, „Dali Old Town“ auf Englisch und mehr als 20km vom modernen Dali entfernt, werden in den Restaurants Speisen angeboten, die ich so noch nirgendwo vorher angetroffen habe. Die aber durchaus unseren Vorstellungen vom Essverhalten der Chinesen entsprechen. In den Auslagen vor den Restaurants finden sich hier nicht nur die unterschiedlichsten Gemüse, Raps samt Blüten und rote Rosen, sondern auch noch jegliches Getier, im See nebenan scheint viel zu gedeihen, nebst Fischen und Muscheln und Krebsen und Fröschen auch Libellenlarven. Und Flechten und Algen und Moose und dicke Maden, die träge herumkrabbeln, finden sich auch in den Auslagen. – Ich hingegen freue mich auf das Europäische Frühstück morgen mit Müsli, Toast und Kaffee, das im Zimmerpreis immerhin inbegriffen ist.

Freitag, 9. Oktober 2009



Dali, 4. Oktober 2009

Fünf Tage am selben Ort zu bleiben, ist wohl etwas zu lang, man gewöhnt sich daran, kennt sich im
Ort aus und hat bereits erste Bekanntschaften gemacht. Das Abreisen fällt dann bereits schwer. Wieder ins Ungewisse, man weiss nicht wo man landen wird. Doch ich merke, dass ich nun langsam vorwärts machen muss, mehr als die Hälfte meiner Zeit sind vorbei und schliesslich möchte ich auch noch etwas Zeit haben für den tropischen Süden, das Tal des Mekong, bevor ich schliesslich zum Postkartenbild von China reise, den Landschaften um Guillin, diesen merkwürdigen Kegelbergen, die in mir seit Jahren – ob auf Fotos oder in alten chinesischen Gemälden – eine grosse Sehnsucht geweckt haben. Die muss ich auf alle Fälle noch sehen. Obwohl man mir sagt, dass die Gegend mittlerweile unheimlich touristisch sei.

Am Morgen gehe ich mit meinem Gepäck zu der Stelle, wo die Minibusse warten. Ein Fahrzeug ist schon fast voll, ich steige ein. Plötzlich kommt ein Tramper mit riesigem Rucksack und fragt, was eine Fahrt direkt nach Dali koste. Der Fahrer zeigt ihm drei 100 Yuan-Scheine, der Typ willigt ein und der Fahrer lässt schleunigst alle bisherigen Gäste aussteigen, mein Koffer wird auf das Dach des nächsten Fahrzeuges gehievt, niemand murrt. Das versteht schliesslich jedermann, dass sich der Fahrer solch einen Deal nicht entgehen lassen kann. Statt vollgestopft mit Leuten für 30 Yuan nach Jianchuan zu fahren, fährt er nun eben für 300 Yuan nach Dali. Mich nervt das, wir Leute aus dem Westen können hier derartig protzig auftreten, nur weil wir mit unserer Währung die besseren Karten haben.

Ich fahre mit dem Minibus nach Jianchuang und dann mit dem regulären Bus weiter nach Dali. Das kostet mich 33 Yuan und vielleicht eine Stunde mehr Zeit. Dafür bleibe ich in Kontakt – im wahrsten Sinne des Wortes – mit den Einheimischen. Die mir sehr rührend helfen auf der Busstation, mein Gepäck bewachen als ich auf die Toiletten muss und erstmals den chinesischen Stallgrabentyp ausprobieren kann. Die moderne Version davon hat zwischen den einzelnen Plätzen hüfthohe Zwischenwändchen eingebaut. Ich stelle mich rittlings über den Graben, das scheint mir logisch zu sein, stelle dann aber fest, dass die übrigen ihr Geschäft von der Seite her erledigen.

Im Bus kriege ich den Platz gleich neben dem Chauffeur zugewiesen und kann so die Landschaft geniessen und einmal mehr die Fahrkünste der Chinesen bewundern. Der Rückreiseverkehr hat nun offensichtlich eingesetzt, wir kommen in einen Stau, der selbst dem Gotthard Ehre antun würde. Nur bleiben die Chinesen eben gelassen. Und ganz still steht der Verkehr auch nie. Die Strasse unten in der Hochebene führt durch endlose Reisfelder, in denen momentan eifrig gearbeitet wird, die Reisernte steht an, die einzige pro Jahr in dieser Gegend. Alles wird in Handarbeit gemacht. Mit der Handsichel geschnitten, die Garben dann auf den Boden gelegt. Anschliessend wird ein Entwässerungsgraben mit Hacken ins Feld gegraben, damit das noch vorhandene Wasser abfliesst. Später werden die Reishalme zu Garben gebunden, die dann zum Trocknen aufgestellt werden, was ähnlich aussieht wie unsere Heinzen. Sind die Bündel getrocknet, so wird in dieser Gegend eine Art überdimensionierter geflochtener Hut verkehrt ins Feld gestellt. Die Frauen - meist sind es Frauen, die diese Arbeit machen, doch gibt es keine klare Geschlechtertrennung bezüglich der Arbeiten - schlagen nun die Garben auf den flachen Rand des Hutes, so dass die Körner herausfallen. Ist fertig geerntet, wird von Hand Mist eingebracht und ebenfalls mit den Hacken der Boden gelockert. Einen Pflug sehe ich nirgendwo.
Und zwischen all diesem geschäftigen Treiben fliesst nun also der Rückreiseverkehr von Teilnehmern der chinesichen Gesellschaft, die ganz andere Probleme haben, ja eigentlich in einem ganz anderen Zeitalter leben. Alles friedlich beisammen. Die Bauern lagern zwischendurch ihre Misthaufen auf dem Pannenstreifen der zweispurigen Strasse, Garben von Reis liegen am Rande zum trocknen und der Verkehr der Städter, viele haben bereits einen eigenen Wagen, rollt ein- bis dreispurig talabwärts. Unser Bus wird immer wieder sowohl auf dem Pannenstreifen wie gleichzeitig auf der Gegenspur überholt, denn momentan fliesst viel weniger Verkehr talaufwärts. Kommt dann trotzdem ein Auto, dann weichen alle einfach ein wenig aus, machen Platz, auch der Wagen, der auf dem Pannenstreifen vorfährt wird problemlos wieder in die Spur hineingelassen, wenn er einer Kuh oder einem Misthaufen ausweichen muss, da ist man wirklich unkompliziert. Das Bild eines Trikotstoffes kommt mir in den Sinn, etwas Treffenderes finde ich nicht. Langsam dehnt er sich aus und zieht sich im gleichen Tempo auch wieder zusammen, alle haben da Platz, niemand ärgert sich, das fliesst wie ein einziger Körper. Wichtigste Regel scheint mir: Weder brüske Richtungs- noch Tempowechsel.

Chinesische Strassen sind übrigens immer erhöht über dem umgebenden Terrain gebaut. Manchmal fällt die Kante nur 30 Zentimeter ab, hier jedoch steht die Strasse auf einer mindestens einen Meter hohen Mauer, wohl wegen dem sumpfigen Terrain. Diese Bauweise finde ich übrigens bereits in den alten, kopfsteingepflasterten Gassen in Shaxi. Beim Ausweichen muss da sehr aufgepasst werden, etwas zu viel und schon ist ein Rad über den Randstein hinaus gefahren. Doch das gibt es hier nicht. Ich fühle mich auch im dichtesten Verkehr so sicher wie nirgendwo sonst auf der Welt. Der Buschauffeur übrigens schafft es, nebst dem aufmerksamen Fahren, auch noch auf mich zu achten. Als ich etwas in meiner Tasche suche und meine Kamera dabei zu Boden gleitet, ohne dass ich es merke, macht er mich darauf aufmerksam. Und als die Sonne zu scheinen beginnt, versuche ich, den Fensterflügel zu öffnen, doch er klemmt. Beim nächsten Halt des Busses wird der Chauffeur aufstehen und mein Fenster öffnen kommen. Auch das hat er ganz offensichtlich aufmerksam registriert.



Shaxi, 5. Oktober 2009

Über Finanzen und Bildung. Mr. Guo, der pensionierte Englischlehrer erzählt mir, er habe zwischen 3000-4000 Yuan verdient, das sind etwa 600.-Franken pro Monat. Damit könne man gut leben. Auch mit seiner Pension sei er zufrieden, nicht deshalb arbeite er nun als Touristenführer. - Wobei er das Geld trotzdem gerne nimmt.
Keith Paterson aus Südafrika, Chef der Sunshinetechnology Abteilung China wiederum erklärt mir, sie würden einem lokalen Forstaufseher umgerechnet knapp 1300 Franken bezahlen. Das sei hier ein gutes Salär. Sein Chauffeur – und damit wohl ein normaler Arbeiter – erhalte etwa 350 Franken. Sein eigenes Salär werde ihm im Ausland ausbezahlt und hier in China habe er kaum Kosten, denn Wohnung, Chauffeur und Spesen, alles sei ja bezahlt. Auf der Homepage von Sunshine Technology stelle ich fest, dass dies ein international tätiges Unternehmen für erneuerbare Energien ist, ökologisch und sozial verträgliche Prinzipien. Und mein Bekannter habe in Simbabwe das FSC Label eingeführt. Einziger Tintenklecks auf der Homepage: Sitz der Firma sind die Bermudas.
Die einzige Frau, die in Shaxi arbeitet und gut Englisch spricht, ist eine Frau aus Guangzhou, die eine Kaffeebar führt. Sie meint, sie sei glücklich hier, sie habe genug gehabt von diesen Riesenstädten. Ihre Eltern seien Ärzte gewesen. Mit der Pension, 1500 Yuan, weniger als 300 Franken pro Person, da könne man in einer Stadt nur knapp leben. China gehe es zwar jetzt schon besser, doch die Leute hätten alle Angst, ihre Arbeit zu verlieren. Geld sei sehr wichtig, es werde gespart wie verrückt. Obwohl mit der Teuerung das Geld jährlich weniger wert habe. Die Zinsen würden die Teuerung nicht ausgleichen, denn in China gäbe es keine Konkurrenz unter den Banken. Einzig der Staat habe das Recht welche zu betreiben. – Was Wunder, dass ich mein Geld immer in der „Bank of China“ wechsle.

Zur Bildung. Der Oberschüler George erklärt mir, dass die Kinder in China bereits mit fünf Jahren eingeschult würden. Das sei sehr hart, Schule in China, das heisse auswendig lernen und Prüfungen. Zum Lesen oder zu Konversationsübungen, da komme man nicht. Weshalb viele Chinesen schriftlich recht gut Englisch könnten, aber dafür nicht sprechen. Da komme man kaum dazu. Viele hätten auch Angst, es zu versuchen. 6 Tage pro Woche gehe er in der Oberstufe zur Schule. Häufig müsse er nach 9 Stunden Schule noch bis in die tiefe Nacht hinein lernen. Im Sommer und im Winter hingegen, da hätten sie je zwei Monate Ferien. – Die Eltern, die dabei sitzen, sind offensichtlich sehr stolz auf ihren begabten und ehrgeizigen Sohn.
Zu den Ausbildungsmethoden. In Lijiang beobachte ich kurz vor dem Nationalfeiertag wie das Personal eines Luxushotels im Freien geschult wird. Trotz widrigstem Wetter. Wohl für den Empfang von erwarteten hohen Gästen. Es geht barsch zu und her, militärisch, Befehle werden herumgeschrieen, die Leute bewegen sich wie Marionetten im Gleichschritt. So etwas würde sich kaum jemand in der Schweiz gefallen lassen.

Die chinesischen Touristen in Shaxi werden immer noch zahlreicher, die recht dürftige touristische Infrastruktur ist total überlastet, die Leute sind in Feststimmung. Meine zweite Stammbeiz hier ist heute Abend ebenfalls überfüllt, auch eine Gruppe junger Amerikaner besetzt einen Tisch, sie fallen durch ihre Leibesfülle auf. Ich setzte mich in eine freie Ecke und warte. Und schaue zu. Hier ist zwar die Küche hinten, den Köchen kann man nicht in die Pfannen schauen, dafür hat es vorne einen riesigen Kühlschrank mit Glastüre, in dem sich verschiedenste Gemüse und Fleisch und Fisch und Tofu stapeln, so dass ich mir bereits mein Menu zusammenstelle im Kopf. Die Tische sind von palavernden Gruppen von Leuten besetzt, recht bald kommt eine Frau besorgt zu mir und will mir helfen, ich würde ja nicht bedient. Die Leute sind sehr vorsorglich hier, ich denke, bereits die Tatsache, dass ich alleine bin, weckt bei ihnen einen Beschützerinstinkt. Auch diesmal Leute aus Kunming und auch sie sprechen sehr gut Englisch. Ich bin langsam wirklich gespannt auf diese Stadt. Mit Tee und Bier und irgend was Selbstgebranntem - auch Limonade geht, das scheint hier nicht darauf anzukommen - gibt es nun ein allgemeines Zuprosten, auch die Amerikaner werden alle freudig begrüsst, man ist fröhlich und zeigt sich von der besten Seite. Schimpft mit dem Wirt, weil er mich so lange hat warten lassen, obwohl ich beschwichtige, dass ich dies gut verstehe, bei all dieser Arbeit. Der Wirt wiederum bietet mir bereits zum dritten mal Zigaretten an, obwohl ich bisher alle abgelehnt habe, vielleicht denkt er, ich getraue mich nicht zu akzeptieren. Mein Essen kommt, Kabis gedämpft, simpel eigentlich, nicht durchgekocht, doch der schmeckt wunderbar, weisser Reis und kleine frittierte Fischchen mit gebratenen Minzenblättchen, die schmecken ganz ausgezeichnet, wenn man ihnen nicht zu tief in die Augen schaut. Ich esse sie mit Haut und Haar, besser Stumpf und Stiel. Die Wirtefamilie setzt sich nun, wo alle ihr Essen haben ebenfalls und die Frau löscht das Licht im Kühlschrank, genug verdient für heute. Einer der Männer steckt seine Zigarette in eine Art Wasserpfeiffe, geraucht wird viel hier, das stört niemanden beim Essen, seine Augen sind bereits gerötet, und bietet mir selbstgemachten Schnaps an, in dem Pfefferschoten oder sonst etwas schwimmen. Ich lehne dankend ab.



Shaxi, 4. Oktober 2009

Ich muss meine Haare waschen und in dieser Kälte möchte ich das ohne Föhn nicht im Hotel machen. So suche ich einen Coiffeursalon und führe pantomimisch vor, was ich gerne hätte. Zwar nicht der Coiffeur, doch einer seiner Kunden versteht sofort was ich will. Allerdings habe ich dann fast etwas Mitleid mit dem armen Coiffeur, der sich unsere feinen Haare überhaupt nicht gewohnt ist. Nachdem er mir etwa eine viertel Stunde lang die Haare eingeseift und massiert und gespült hat, sehen die aus wie toupiert, und er braucht entsprechend lange, um das ganze wieder zu entwirren, was er sehr sorgfältig tut. Für weniger als 2 Franken das ganze, die Leute werden hier wirklich nicht reich. - Junge chinesische Männer, nicht nur die Coiffeure, lieben übrigens einen extrem femininen Haarstil. Die Haare sind abgestuft und lang geschnitten und werden stark auftoupiert und meist mit rötlichen oder blonden Strähnen versehen. Die Beatels haben auch lange Haare gehabt, das stimmt – das wirkt heute ebenfalls lächerlich auf mich – doch dies hier ist weit schlimmer. Junge chinesische Männer sehen aus wie getrimmte Pudel. Und man muss zweimal Schauen um sicher zu sein, ob es wirklich Männer sind, denn auch bei der Kleidung lieben sie Extravagantes.

Dann gehe ich mitten am Nachmittag zu der Frau, die genau in der Kurve der Dorfstrasse ihr Lokal hat. Sie kocht unter einem Wellblechdach vor dem kleinen Essraum mit niedrigen Holzbänken und Tischchen, so dass man ihr gut dabei zuschauen kann. Löffelweise schmeisst sie Gewürze in die verschiedenen vorbereiteten Schüsseln, giesst mit dem Schöpflöffel Öl und Sojacaue nach, alles mit Schwung, Eleganz und Geschwindigkeit. Und merkwürdigerweise stimmt die Würzung am Schluss genau, weder zu viel noch zu wenig, ich esse nicht das erste Mal bei ihr. Meistens deute ich einfach auf eine Speise, die sie eben zubereitet hat. Oder auf die Gemüse, die ordentlich aufgeschichtet ausgestellt sind. Das kommt immer gut. Heute gibt es kleine Fleischstückchen mit Knöchelchen, Schwein oder Ziege nehme ich an, beides weit verbreiteten Tiere hier, knusprig gebraten mit Chilischoten und Lauchstücken. Dazu weissen Reis.
Einigermassen erfolgreich bin ich auch beim Essen, heute schauen mir sehr viele Leute zu, was die Sache nicht erleichtert. Ich sehe, dass die anderen selbst diese kleinen Fleischstückchen mit Knochen und Knorpeln mit den Stäbchen in den Mund schieben. Was mir ebenfalls problemlos gelingt. Nun gilt es im Mund sorgfältig Knochen von Fleisch zu trennen, was schon etwas schwieriger ist, man muss da lutschen und saugen und schaben und schliesslich das Ungeniessbare einfach auf den Tisch oder den Boden spucken. Letzteres ist immer noch nicht ganz einfach für mich, doch ich mache mich langsam auch in dieser Sparte gar nicht so schlecht. Der Reis schliesslich ist ungesalzen und etwas klebrig und nach anfänglichem Missbehagen habe ich ihn lieb gewonnen als Beilage zu gut gewürzten Gerichten. Leider fallen mir immer noch häufig die Körner hinunter, man muss da eine Art Schaufeltechnik anwenden, bei der beide Stäbchen unbeweglich parallel gehalten werden. Dann entweder Kopf runter bis fast auf die Höhe der Schale oder dann - was ich bevorzuge - Schale hinauf bis dicht vor den Mund und einfach hinüberschaufeln. – Ich glaube, ich habe mich unter den kritischen Blicken – häufig wenn ich ein Lokal betrete, ist es innert kürzester Zeit voll – ganz gut gehalten heute.

Nicht ganz so erfolgreich war der Morgen. Am Mittag wurde ich von einem Gewitter nach Hause getrieben. Ich bin nochmals zum Shibao Shan, einem Berg in der Nähe gegangen, der sich dadurch auszeichnet, dass er von ganz speziellen roten Sandsteinfelsen geziert wird. Bereits die rote Farbe ist auffällig, doch noch auffällliger ist die merkwürdige netzartig gerundete Struktur der Oberfläche. Ich habe noch nie so etwas gesehen – ausser auf Landschaftsbildern von chinesischen Meistern. Und dort geglaubt, dass dies deren Fantasie entsprungen. Doch nichts dergleichen. Ich versuche mich ebenfalls in der Malerei und stelle unwillig fest, dass ich eben noch himmelweit vom chinesischen Können entfernt bin. Denn diese Maler haben ja nicht einfach abgezeichnet. Sie haben ihre Landschaften nicht vor Ort, sondern aus dem Gedächtnis gemalt. Ich selber gehe zwar nicht so weit, nehme mir jedoch vor, erst die Komposition zu machen und dann die Strukturen zu begreifen und erst dann mit malen anzufangen. Das gelang mir heute nur teilweise, viel zu wenig konnte ich mich von der Realität lösen. Ich muss das Morgen nochmals versuchen.

Übrigens habe ich denselben Berg bereits gestern bestiegen, und zwar bis ganz oben zu den Steinfresken, die in diese bizarren Felsformationen gehauen worden sind zu Zeiten als Shaxi eine wichtige Station auf der Pferde-Tee-Handelsstrasse - auch südliche Seidenstrasse genannt - gewesen ist. Die Steinskulpturen stellen Figuren aus dem Buddhismus dar, der damals, von Indien eingedrungen, in dieser Gegend wichtig war. Ich machte diese Wanderung zusammen mit einem älteren Herrn aus Südafrika, der in Kunming als Manager einer internationalen Forstwirtschaftsgesellschaft arbeitet. Kommerziell, meint er, man baue Eucalyptus an für die Papierherstellung. Doch achte man auf die Ökologie, Eucalyptus werde nur auf den Bergkuppen angepflanzt, nicht dort, wo er der Vegetation zu viel Wasser abzapfen könne. Er klärt mich auf über das Problem der Entwaldung hier in China. Nicht 6000 Jahre intensiver Kultur hätten dazu geführt. Das sei erst während der Kulturrevolution passiert, als Mao befohlen habe – aus einer Art Paranoja – alle Chinesen müssten all ihre metallischen Gegenstände abgeben, Werkzeuge, Schmuck, was auch immer. Man brauche das Metall, um daraus Waffen schmieden zu können gegen die Ausländer, die China angreifen wollten. So sei nicht nur alles Metall eingeschmolzen worden, sondern auch noch alle Wälder abgeholzt, denn zum Schmelzen von Metall brauche es sehr viel Energie. Und diese Wälder hätten sich bis heute nicht erholt, grosse Bäume gäbe es nur wenige. Obwohl es nun zum Fällen eines jeden Baumes eine Bewilligung brauche. Selbst seine Gesellschaft, die die Bäume ja selbst anpflanze, habe hart darum kämpfen müssen, nicht pro Baum, sondern pro Fläche Abholzbewilligungen zu kriegen.

4.Oktober heute, eigentlich habe ich gedacht, dass nun die chinesischen Touristen langsam wieder nach Hause gehen, gestern sind einige abgereist und auch heute Morgen wieder. Nur wurden sie im Laufe des Tages durch neue ersetzt. Wahrscheinlich wird es noch die ganze Woche lang schwierig sein, ein Hotelzimmer zu buchen, das habe ich vollkommen unterschätzt. Chinesen reisen nicht nur wahnsinnig gerne, nein, leider sind sie auch vorsorgend und scheinen ihre Ferien gut im voraus zu planen und zu buchen. Was mir das Weiterreisen sehr erschwert, denn ich bin das nicht.
Chinesen, die kein Chinesisch sprechen. Das habe ich bereits angetroffen. Heute Abend in der einzigen Bar hier, wo die Serviererin wirklich gut Englisch spricht, redet ein chinesisch aussehender Mann Englisch mit ihr. Ob sie Obama kenne? Sie kennt. Die ganzen Dialoge sind auf Englisch, doch schliesslich kriegt er ein Telefon und antwortet in einer Sprache, die für mich chinesisch tönt. Japanisch ist anders, finde ich. Was nun? meine Story zerfällt. Chinese zurück in seiner Heimat, Sprache kennt er nicht mehr. Japaner in China, spricht zwangsläufig Englisch mit den Leuten hier. Oder Chinese in China. Spricht Englisch, um seine Bildung zu zeigen, wie ich dies auch in Tansania erlebt habe – keine Ahnung, welche Geschichte nun stimmt.
Mein Nebenzimmer, hübsch, ich habe hinein geschaut, aber auch ohne Badezimmer und das scheinen chinesische Touristen heute ebenfalls zu missen, ist doch wieder besetzt worden. Statt des jungen israelischen Tramperpaares, ist nun ein chinesisches Paar dort einquartiert, die Frau telefoniert eben laut und lange. Ob das diese Nacht ruhiger werden wird? Ich habe so meine Zweifel, verliebt gurrende Laute dringen zu mir herüber. Die Wände in diesen Hotels scheinen aus Papier zu sein – oder mindestens nicht aus viel mehr.