Mittwoch, 30. September 2009




27. September, Lijiang

Heute habe ich Mr. Guo getroffen. Der kam gerade im richtigen Moment. Ob ich einen Führer brauche? Eigentlich schon, ist ja klar, der gängige Tourismus kann meine Bedürfnisse nicht befriedigen und Informationen für individuelles Reisen sind schwer zu erhalten, ich habe noch nicht einmal eine brauchbare Karte der Gegend gefunden. Ich schaue Mr. Guo an und habe sofort Vertrauen in ihn. Ein älterer grosser extrem hagerer Mann mit fein goldgerandeter Brille. Als er mir Fotos von sich und Touristen beim Trekking in den Bergen zeigt, glaube ich ihm das sofort, er sieht extrem zäh aus. Mr. Guo war Lehrer und ist jetzt 62 Jahre alt. Und frei herumzureisen, wie er erwähnt, seit seine Frau gestorben sei und sein Sohn in Wuhan arbeite. Zu Hause würde er krank. Er ist Han-Chinese. Woher er wirklich kommt wird mir nicht klar.

Ich mache ihm verständlich, dass ich nicht in die hohen Berge hinauf will, weil es mir bereits hier im Tal viel zu kalt ist. Aber vielleicht würde er mich ja auf eine Fahrradtour in die Dörfer ringsherum begleiten. Die nicht ganz so touristischen. – Mr. Guo ist kein guter Radfahrer, das gesteht er mir gleich, er sei schon lange nicht mehr auf ein Rad gestiegen. Er fährt dann auch sehr zögerlich aus der Stadt hinaus, die zusammen mit der Neustadt, auch bereits 200’000 Einwohner hat. Am Abend aber fühlt sich auch Mr.Guo auf dem Rad wieder sicher. Und begriffen hat er von Anfang an, was ich eigentlich suche. Führt mich erst in ein ganz verstecktes kleines Dorf, wo wir von einem alten Ehepaar in ihr Gehöft hereingelassen werden und zum Tee eingeladen. Nein, Kind, das wohne keines mehr zu Hause, die seien alle in der Stadt. Und würden gutes Geld verdienen. Das Gehöft ist zwar alt und etwas verlottert, doch blühen im Hof viele Blumen in Töpfen, etwas, das mir bei allen Naxi-Häusern auffallen wird, auch eine Satellitenschüssel für das Fernsehen gibt es – dies ebenfalls normal auf dem Lande. Mr. Guo klärt mich auf. Erst vor gut 5 Jahren, da sei der Tourismus in Lijiang wichtig geworden und seither seien eben viele Leute damit reich geworden. Und jetzt wollten alle auch ein Stück vom Kuchen, selbst unser 80ig jähriges Ehepaar spricht davon, noch ein Gästehaus aufzutun. Zusammen mit den Kindern. Und Mr.Guo meint, bis in 5 Jahren, da sei es wohl in diesem Dorf gleich wie in den meisten übrigen. Ich möchte wissen, ob ihn dies stört. Mr. Guo zögert etwas. Nein, meint er schliesslich, seit fünf Jahren habe sich der Lebensstandart der Leute sehr gehoben. Sie hätten nun auch Geld, ihre Kinder an Universitäten in Peking oder Shanghai zu senden, die meisten Jungen wollten sowieso fort. Und ja, ein Problem sei das schon, dass dann nur noch die Alten hier blieben. – Die alten Naxi, denke ich. Denn gleichzeitig mit dem Tourismusgeschäft ist auch eine grosse Welle von Han-Chinesen neu in diese Gegend gekommen. Die Naxi waren ursprünglich Bauern, sind es immer noch, aber nun eben auch auf den Geschmack gekommen.

Auf dem Weg zum Dorf fahren wir durch Felder voller wild wachsender rosaroter und weisser Kosmeen. Und fast in jedem Feld sitzt ein westlich gekleidete Brautpaar. Hochzeitsfotos in toller Umgebung sind sehr beliebt. Auch in dem romantischen Teil von Suzhou wurde eifrig posiert und fotografiert. Von Profis, da reist ein ganzen Team mit, das lässt man sich etwas kosten.
Kosmeen gibt es bei uns nur in den Gärten, doch viele wild wachsende Pflanzen hier kommen mir sehr bekannt vor. Ein kleiner, leuchtend blau blühender Rittersporn wächst auch in der Schweiz, verschiedene Asterarten sehe ich, weiss wollig behaarte Buddlejas, die blassblaue Blütentrauben haben und Brennesseln kriege ich auch zu spüren.
Die Vegetation gleicht derjenigen des Tessins, auch Palmen sieht man, allerdings nicht in der Natur, Passionsfrüchte, Camelien und Pfirsichbäume. Nebst weniger anspruchsvollem wie Nussbäumen, Äpfeln, Birnen und Zwetschgen. Die Hauptfeldfrucht ist der Mais.

In Sachen Tiere sind wir ebenfalls fast in der Schweiz, die Kühe sind nicht mehr schwere Wasserbüffel sondern gleichen eher unserem Simmentalervieh, Pferde, Esel, Schweine, allerdings sieht man nur die Ferkel herumspringen. Die alten Säue hört man in den Gebäuden grunzen und man riecht sie auch beim vorübergehen. Die würden mit den überall wild wachsenden Kürbissen und auch mit Maisbrei gefüttert, belehrt mich Herr Guo. Doch, die Menschen würden das auch essen, manchmal, die Maiskolben vor allem frisch gekocht. Und verkaufen: Für zwei Kilo Mais kriege man ein Kilo Reis.

Auffällig ist vor allem, wie vieles hier noch in Handarbeit erledigt wird. Frauen, die mit riesigen Fudern von Raps auf dem Rücken ins Dorf kommen. Und Männer, die mit den Babys auf dem Rücken herumspazierten. Die Naxigesellschaft sei eben immer noch von den Frauen dominiert. Fast die Hälfte der Männer gehe keiner Arbeit nach und kümmere sich um die Kinder. Diese matriarchalische Gesellschaft ist eine Besonderheit auch hier in China. Später werden wir noch einer jungen Frau zuschauen, wie sie mit einem Schlegel den Raps drischt. Ungefähr 2 Stunden sei sie an solch einem Haufen, weiss Mr.Guo zu berichten. Doch, er habe das auch schon gemacht meint er weiter. Als junger Mann, da sei er auf dem Land gewesen. Ich schalte sofort, 62ig jährig, da war er während der Kulturrevolution von 1966 bis 70 Student. Und wurde aufs Land abkommandiert. Ich nehme mir vor, ihn später bei Gelegenheit darüber auszufragen. Das ist für die Leute auch heute noch ein schmerzliches Thema. Mr.Guo spricht übrigens gut Naxi (Naschi ausgesprochen), eine eigene Sprache, die sogar eine Schrift entwickelt hat, eine Piktogrammschrift, die er mir noch an Beispielen erläutern wird. Mit etwas Phantasie versteht man mindestens einen Teil der 1500 bildhaften Schriftzeichen.

Die alte Naxi-Frau führt mir noch ihre Tracht vor. Sehr bequem und warm, stelle ich fest. Über dem Rücken ein Schaffell, die Haut gegen aussen gekehrt. Bei den Armen stehen eine Art Flügelansätze vor. Oben ist das Fell aussen mit blauem Stoff überzogen, das bezeichne den Himmel, der untere Teil ist die weisse Haut, Sinnbild für die Erde, erklärt sie mir. Und dazwischen runde Kreise, die Sterne, an denen Lederbänder befestigt sind. An Indianerkleider erinnert mich das.
In einem weiteren Dorf haben wir Gelegenheit, einer Gruppe von älteren Frauen zuzuschauen, wie sie ihre alten Tänze üben. Für den Nationalfeiertag meint Mr. Guo. Die Frauen scheinen sich nicht immer ganz einig zu sein, wie die Bewegungen auszuführen seien, beständig wird unterbrochen und es gibt ein lautes Palaver. Schade finde ich, dass nun fast alle Frauen die blaue Maokappe adoptiert haben, die ist sehr beliebt hier – wie Mao überhaupt, in Lijiang gibt es zwei riesige Skulpturen von ihm, immer noch. Schade deshalb, weil die traditionellen, ebenfalls blauen Kopfbedeckungen eigentlich viel schöner sind.

Dienstag, 29. September 2009



26. September, Lijiang

Die Chinesen haben nicht auf uns gewartet. Dies wird mir sehr bewusst hier oben, auf 2150m Höhe in einem breiten Tal, fast wie in der Schweiz. Auch Klimatisch, seit ich vor drei Tagen angekommen bin, hat es mehr oder weniger immer geregnet. Und ist kühl, um die 16 Grad. Drinnen wie draussen, denn die Häuser scheinen hier für warme Temperaturen gebaut worden zu sein. Das erinnert mich an eine Reise vor mehr als 30 Jahren im Dezember nach Nordafrika. Das wurde sehr viel kälter als erwartet. Und was ich einfach nicht verstanden habe war, dass die Leute in den Kaffees die Türen und Fenster selbst dann nicht schlossen, wenn solche vorhanden waren. Sich in ihre dicken Dschelabas mit Kapuze einmummten und der Kälte trotzten. Hier ist es ähnlich. Fenster und Türen der Hotelzimmer schliessen nicht richtig und die vielen Touristenrestaurants verzichten häufig gänzlich auf Fenster, sind eigentlich überdachte Veranden, einzig vor dem Regen ist man geschützt. Chinesen tragen hingegen nicht dicke primitive Mäntel, sondern sind im allgemeinen mit westlichem Chic angezogen, besonders in den Ferien. Eine Regenjacke vielleicht. Und die wenigen Naxi-Frauen in ihren speziellen warmen Trachten haben etwas ähnlich museales wie die Frauen in Berner Tracht bei uns.

Lijiang ist eine Stadt der Naxi, einer Minoritätengruppe des Südens. Und ist eine sehr beliebte Touristendestination bei den Chinesen, auf die ist man hier eingestellt. Es gibt eine Old Town, alles wirklich schöne Holzhäuser - allerdings nicht so sehr alt, das meiste wurde nach einem Erdbeben 1996 neu aufgebaut nach alten Plänen. Wie das in China die meisten alten Gemäuer sind, die Chinesen scheinen zwischen wirklich alt und nachgemacht alt keinen Unterschied zu machen, das freut sie beides genau gleich. Gute Kopien muss man sagen, häufig muss ich zweimal schauen, bis ich merke, ob ein Haus wirklich alt ist oder nicht. Und diese alte Stadt in den Bergen ist nun offensichtlich ein derartiger Touristenmagnet, dass es in den Gassen mindestens ebenso viele Leute hat, wie in einer dieser Millionenstädte zur Rushhour. Nichts von Stille und Beschaulichkeit in der Natur, die Chinesen lieben und brauchen wohl immer und überall Rummel und Lärm und andere Leute. Man fährt in Gruppen hin und ist bereit, den Organisatoren viel Geld dafür abzuliefern.
Als ich etwas an den Rändern dieses Rummelplatzes herum spaziere, stelle ich fest, dass noch laufend neue alte Naxi-Häuser gebaut werden. Und so zuschauend, kann ich eigentlich gar nicht mehr viel Schlechtes darin sehen. Immerhin geht so das alte Kunsthandwerk nicht verloren und wird immer noch praktiziert. Naxi-Häuser sind Holzkonstruktionen, die Pfosten sind rund, die Giebel du Balken werden reich mit abstrakten und abstrahierenden Motiven geschmückt und bemalt. Die Wände dann mit Ziegelsteinen ausgefüllt, die weiss verputzt werden.
Weniger gut ist, dass der grösste Teil dieser Naxi seit dem Erdbeben weggezogen ist. Ich will da nicht urteilen, vielleicht wurde ihnen ja auch von den Han-Chinessen soviel Geld geboten, dass sie fanden, damit anderswo etwas Besseres bauen zu können. So wie ich das in Sansibar gesehen habe. Die Leute verkaufen ihre alten Stadthäuser, deren Unterhalt zu viel Geld kostet und bauen sich etwas billiges Neues auf dem Land. – Überhaupt könnte man die Stone Town durchaus mit Lijiang vergleichen. Beide Städte werden momentan vom Tourismus überfallen. Wobei mir die Stone Town doch immer noch sympathischer ist. In Lijiang gibt es ausser Souvenirshops, Hotels und Restaurants überhaupt nichts mehr, ich glaube nicht, dass da noch jemand wohnt. Die Stone Town ist auch auf dem Weg dazu – allerdings noch lange nicht so weit. Und auch nicht so herausgeputzt, immer noch gibt es dort Ruinen, Häuser die zusammenbrechen, weil sich niemand darum kümmert, Unorte voller Abfall. Hier in Lijiang ist von Zerfall keine Spur, alles fast etwas zu clean. Vielleicht wie Interlaken in der Schweiz überlege ich mir, nur viel grösser, Lijiang Old Town bedeckt ein mehrfaches der Fläche. Und ist auch klar von der übrigen modernen Stadt abgetrennt. Wie ein Museum. – Die Chinesen müssen sich in Interlaken sehr wohl fühlen. Oder auch in Zermatt. Gar nicht aber in Hinterfultigen.

Momentan wird die ganze Stadt mit Chrysanthementöpfen geschmückt, otausende stehen bereits herum. Und liebevoll werden die schweren riesigen Blütenköpfe mit feinen Holzstäbchen gestützt, der Regen, der seit drei Tagen andauert, bringt die Stängel zum biegen und einknicken. Auch Tagetes werden hingestellt und andere Blumen, doch die Chrysanthemen bleiben die Königinnen. Sie sollen ein langes Leben garantieren und sind Symbol der Reinheit. All dieser Schmuck ist für die nahenden Festtage gedacht. Am 1. Oktober wird das 60-ig jährige Jubiläum der Chinesischen Republik gefeiert. Und zwei Tage später ist der 9.9.des Mondjahres. Die Zahl 9 steht für die männliche positive Kraft Yang, weshalb der 9.9. ein gefährlicher und machtvoller Tag ist. An dem man am besten in die Höhe klettert, auf heilige Berge und Türme. Mir schwant Schlimmes. Wollen da wirklich noch mehr Chinesen anreisen?
Am verrücktesten finde ich übrigens die Gasse, in der beidseits Restaurants mit integrierter Disco und Tanzfläche platziert sind. Da diese Gebäude - wie ich bereits erwähnt habe - keine geschlossenen Räume sind, ist in dieser Gegend eine ungeheure Kakophonie von Musikstilen, alles wild durcheinander gemischt, zu hören. Und furchtbar laut. Aber das scheint Chinesen nicht zu stören. Ebenso sehe ich häufig in einer bestimmten Ecke eines Parks Musiker, die sich in ihren Instrumenten üben. Das Besondere daran: Sie spielen nicht alle am selben Stück, jeder übt einzeln an seinem. Doch suchen sie sich dafür nicht einen möglichst ruhigen einsamen Platz, sondern ziehen es vor, in Gruppen zusammen zu bleiben. – Ich denke, in sehr vielen Sachen, sind Chinesen einfach viel flexibler. Wahrscheinlich hören sie gleichzeitig den anderen zu während sie ihr Stück spielen. Oder können die andere Musik in ihrem Gehirn oben einfach ausblenden. Und sind damit in einer überbevölkerten Welt sicherlich überlebensfähiger als wir.

Doch zurück zum Anfang: Auf uns Langnasen hat man hier wirklich nicht gewartet. Unseren Wunsch nach Stille und Einsamkeit in der faszinierenden Bergwelt, den versteht man in den hiesigen Reisebüros nicht. Es hat zwar hier recht viele Westler, sehr viel mehr als ich normalerweise in Grossstädten angetroffen habe, doch denke ich, haben die meisten eine arrangierte Tour bereits in ihrer Heimat gebucht. Eher ältere und eher wohlhabende Touristen, die mit der hiesigen Bevölkerung kaum in Kontakt kommen und sich so nicht darüber ärgern müssen, dass man in den vielen Reisebüros Wünsche nach individuellen Ausflügen in einsame Bergdörfer einfach nicht versteht. Was mir das Reisen gewaltig erschwert. Ganz abgesehen davon, dass es seit drei Tagen herunterregnet, was meine Moral und Unternehmungslust zusätzlich dämpft.

Montag, 28. September 2009






23. September, Kunming

Von der Farbe des Wassers. Chinesen lieben Wasser und Wasserflächen hat es denn auch fast überall, in jeder Stadt, all die Spiegelungen haben etwas Magisches. Sie sitzen auch sehr gerne am Wasser und dies ganz unabhängig davon, wie sauber es ist und wie es riecht.Bis gestern habe ich Wasser in China eigentlich immer nur entweder ockerbraun, rotbraun oder tiefschwarz angetroffen. Letzteres vor allem bei den Teichen in den verschiedenen Parks in Suzhou. Fast etwas unheimlich wirkte dieses finstere Wasser auf mich, doch die Spiegelungen waren wunderbar.
Gestern bin ich mit dem Zug von Chonqing aus Richtung Kunming aufgebrochen. Anfangs folgten wir einem Flusslauf, leider habe ich noch nicht herausgefunden welchem, über die Karten hier habe ich ja bereits berichtet. Ein zusätzliches Problem ist, dass sie bereits veraltet sind, wenn sie vom Druck kommen, denn hier wird ganz unheimlich am Bahn- und Strassennetz gearbeitet. Auch durch dieses rasch sehr ländliche Tälchen, dem wir mit dem Zug folgen, gibt es eine Autobahn. Eine Minimalautobahn würde ich sagen, 4 Spuren, keine Pannenstreifen, nichts unnötiges, doch trotzdem viel Aufwand, denn die Gegend ist sehr gebirgig, häufig führt das Trassee auf Betonpfeilern über Täler oder den Abhängen entlang. Verkehr darauf hat es praktisch keinen, noch viel weniger, als auf der Autobahn von Wuhan nach Yichang, irgendwie scheinen mir diese Fernverbindungen auf Vorrat gebaut zu sein. Doch vielleicht haben ja einmal genügend Chinesen Autos, damit die benutzt werden können. Mit dem momentanen Fortschritt, allein in Peking sollen täglich 1000 Fahrzeuge neu in Betrieb genommen werden, ist das gar nicht so unwahrscheinlich.Das merkwürdige an dieser einsamen Autobahn: Irgendwie stört sie die Idylle des Tales nur wenig. Der Fluss, anfangs noch braun, ich komme auf die Farbe zurück, wird zusehends grüner und endet in einer Art Schilfgrün und sieht so bereits recht sauber aus. Besiedelt ist die Gegend wenig, endlich kleine, teils auch noch alte Bauerndörfer. Einstöckige Gebäude aus Backstein mit grauen Ziegeldächern. Oder dann, was mich erstaunt, auch eine Art Rieghäuser wie wir sie kennen. Weiss gestrichen zwischen den dunklen Balken. Die Abhänge sind meist steil, bereits einige kegelförmige Bergformen, häufig bis weit hinauf terrassiert, etwas trockener jetzt, wie mir scheint. Oder auch nur entwaldet, nur vereinzelte Bäume. Doch man sieht gewaltige Anstrengungen. Die neuen Einschnitte, die Strassen und Bahn verursachen, werden mit Bäumen bepflanzt. Gegen die Erosion wird eine Art Betongitter über die Böden gelegt, das in Zickzacklinien das Wasser ableitet und eine Erosion verhindern soll. Man hat offensichtlich gelernt aus den Fehlern.Angebaut wird immer noch Reis, viel Mais nun auch, eine Art Süsskartoffel nehme ich an und neu hier gegen Süden zu auch Tabak und Sonnenblumen. Ich sehe erste Pferde und Esel auf dem Land, kleine Tiere scheinen mir das, die vor Wägelchen gespannt werden.
Doch zurück zu der Farbe des Wassers. Blau ist die eigentlich fast nie. Höchstens das irisierende Türkis des tropischen Wassers rund um Korallenriffe. Oder manchmal das Gletscherblau in schweizer Seen. Oder dann auf Stadtplänen und Landkarten. Da sind die Gewässer immer Blau eingezeichnet, auf chinesischen Plänen sogar intensiv Dunkelblau.
Als es finster wird, durchfährt der Zug wieder grössere Siedlungen, doch haben die immer noch menschliche Dimensionen. Fünfstöckige Häuser, nichts höheres, und die Fassaden sind mit kleinen Plättchen mosaikartig verkleidet, was eigentlich recht schön ist. Nur scheinen sich diese Plättchen häufig selbständig zu machen und hinunterzufallen, weshalb da häufig unschöne Wunden in den Wänden klaffen. Irgendeinmal in der Nacht erreichen wir wieder eine schnelle Zuglinie, ich nehme an, diejenige von Chengdu und rasen mit hoher Geschwindigkeit südwärts.
Eine Reise in einem chinesischen „Soft sleeper“ ist ein Erlebnis an und für sich. Die einzelnen Abteile, je sechs Pritschen, ich habe das Glück, die unterste gekriegt zu haben, sind nicht durch Türe und Wand vom Rest des Wagons abgetrennt, was ich eigentlich sehr angenehm finde, man kriegt da weniger Platzangst. Und im Gang hat es gepolsterte recht bequeme Klappsitze, man ist nicht gezwungen, die ganze Zeit auf der Pritsche zu verbringen. Dies gibt mir Gelegenheit, das Publikum zu studieren. Chinesen sind sich ganz offensichtlich gewohnt ohne viel Privatsphäre zusammen zu leben. Ich teile mein Abteil mit einer Familie, Vater, Mutter und eine etwa zweijährige Tochter, die obersten Pritschen bleiben leer, der Zug ist nicht ganz ausgebucht. Sofort werden mir frische Trauben angeboten, ich habe zwar kurz Bedenken, frische Früchte werden in den Reiseführern verteufelt, doch dann finde ich, dass Anstand wichtiger sei und bedanke mich für das Angebot. Die Trauben sind übrigens ganz wunderbar. Genauso wie etwas später die sehr saftigen Äpfel, ich zögere jetzt bereits nicht mehr. Bin nur etwas geniert, denn ich habe nichts anzubieten, ich muss mir das in Zukunft merken. In einen Zug, da geht man nicht ohne genügend Esswaren für eine ganze Familie.Wir finden Chinesen meist schmutzig, weil die Böden ziemlich fleckig sind. Ich habe heraus gefunden, dass die Chinesen dies sehr wohl auch unangenehm schmutzig finden, daran liegt es nicht. So beobachte ich die Mütter - es hat zwei weitere Kleinkinder im Wagon - wie sie ihren Kleinen immer sofort Schuhe anziehen, sobald sie von den Pritschen hinunter wollen. Und diese entfernen, sobald sie wieder hinauf wollen. Und wenn sie, nach Kleinkinderart sich auf den Boden setzten oder knien wollen, dann werden sie von den Müttern sofort an den Armen hochgezogen, meist ein kleiner Klaps auf den Hinterteil, es ist klar, dass dies äusserst unerwünschtes Verhalten ist. Selbst wenn sie mit den Händchen den Boden absuchen wird dies sofort verwehrt und mit einem Klaps auf das Händchen quittiert. Nun darf man aber nicht meinen, dass chinesische Mütter lieblos wären, ganz im Gegenteil, sie sind extrem beschäftigt mit ihren Kleinen, sie haben ja auch nur ein einziges, und das wird gewaltig verwöhnt. Dauernd herumgetragen, herumgeschmust. Aber eben, was wir als normales kindliches Verhalten quittieren, das gefällt den chinesischen Frauen gar nicht. Wohl deshalb tragen sie häufig auch noch recht grosse Kinder herum, der Boden ist hier so schmutzig.Chinesen sind also nicht im geringsten Leute, die den Schmutz lieben, weil sie in einer schmutzigen Umgebung leben. Für sie ist es einfach normal, dass auf den Boden gespuckt wird, kleine Kinder werden für ihr Geschäft häufig in der Strasse hochgehoben. Die Frauen umklammern dabei die Kinder an den Oberschenkeln, so dass sie sitzend über dem Boden schweben. Dabei geht der Hosenschlitz auf, das Hinterteil ragt heraus und das Geschäft kann ohne ein sich Beschmutzen erledigt werden. - Ich muss wohl erst einmal die Kleinkindermode erläutern. Bis etwa dreijährig haben die Kleinen Hosen an, die vom Bauchnabel bis zum Hinterteil einen Schlitz haben. Davon sieht man kaum etwas beim Stehen oder beim Gehen. Hingegen klafft der sofort auf, sobald ein Kind sich setzt oder niederkniet. Windeln schient man in China nicht zu kennen, vermutlich finden sie dies ebenso unappetitlich wie das Benutzen und mit sich Herumtragen von gebrauchten Nastüchern (was es im Prinzip ja auch ist. Obwohl ich sagen muss, dass ich trotz Windelpaketen mich nicht an dieses traumatisches Erlebnis erinnern kann). Schmutziges sollte hier nicht an den Leib kommen, das ist mir klar.Nicht klar – immer noch nicht nach all meinen Beobachtungen letzte Nacht – ist mir, wie die Mütter merken, wann die Kinder müssen. Einmal fragte die Frau ihren Mann um WC-Papier und verschwand dann mit der Kleinen rasch Richtung Toilette. Ich jedoch habe dem Kind überhaupt nichts angemerkt. Und bin auch höchst erstaunt, dass die Pritschen, welche die Kleinen mit ihren Müttern teilen, offensichtlich am Morgen noch trocken und sauber sind. – Dies erste Studien zu Intimitäten und Mysterien der chinesischen Bevölkerung.


22. September, Chonqing

Chinesen müssen ein anderes Körpergefühl haben als wir. Gestern Nachmittag gönnte ich mir wieder einmal eine Fussmassage. Eine Stunde bequem in einem Fauteuil liegen und sich die Füsse massieren lassen nach einer Methode, welche die Reflexzonen berücksichtigt, also nicht nur angenehm ist, sondern auch gesund sein soll für das allgemeine Befinden. Obwohl es ab und zu auch schmerzt, wohl die neuralgischen Punkte, ist das ganze doch äusserst entspannend. Selbst Arme und Beine werden massiert, die Kleider behält man dabei an. Beginnen tut das ganze Ritual mit einem heissen Fussbad. Und jetzt komme ich zu dem Körpergefühl: Mir war das Wasser mit den Kräutern darin viel zu heiss, sich erbarmend, goss der Masseur noch etwas kaltes Wasser nach, doch hatte ich auch dann noch Mühe, meine Füsse da hinein zu strecken und tat dies nur zögerlich langsam.
Am Abend sitze ich dann in einem der engen Gässchen am Hang. An einem Ort, wo es gerade ein paar Meter lang flach ist stehen zwei kleine Tische und die für China so typischen Plastikhocker. Die Frau bereitet mir einen Nudeltopf zu wie ihn die anderen auch essen. Der wird frisch gekocht, Nudeln, eine Art Spinat und Sojasprossen, gut und scharf gewürzt. Auch ohne Sprache, sie zeigt auf die verschiedenen Gewürze, beim Chili mache ich ein Zeichen „nur wenig“, bei den anderen nicke ich, kriege ich eine wunderbare, einfache Mahlzeit für etwa 70 Rappen. – Nun wieder zum Körpergefühl. Für mich ist diese Nudelsuppe wahnsinnig heiss, ich muss lange warten, bis ich das essen kann. Mein Gegenüber hingegen, der seinen Topf später kriegt, stürzt sich sofort darauf und scheint seinen Magen nicht zu verbrennen.
Bereits bin ich eine gute Nudelschlürferin. Kopf tief über den Topf, grosses Pack Nudeln zwischen die Stäbchen klemmen, mehrmals daran ziehen, bis es etwas weniger werden, dann hinein beissen, etwas schlürfen und mit den Zähnen abschneiden, sobald genug im Mund ist. Einzig bei den Gemüsen klappt das manchmal nicht so elegant, die sind zu zäh – doch das stört niemanden hier. Mein Visavis hat eine etwas andere Technik. Geräuschvoll schlürft er die Nudeln bis zu den Spitzen - wie Regenwürmer schauen die Enden aus dem Mund – in sich hinein. Im Hotel stelle ich dann fest, dass meine Bluse ziemlich verspritzt ist.

Heute Morgen erstmals in Chonqin so etwas wie Blau am Himmel. Davor zeichnen sich weisse Schäfchenwolken ab, die jedoch bald wieder von einem grauen Schleier überzogen werden.
Vor dem Hotelfenster schöner Vogelgesang, eine Art Amsel, ich war da noch nie sehr gut. Erstaunlich immer dieses Singen, das man durch den Stadtlärm hindurch wahrnimmt. Allerdings stammt das meist von eingesperrten Singvögeln. In den engen Gassen hängen überall Käfige an den Decken oder auch in Bäumen.

Am Morgen bin ich konservativ und gar nicht experimentierfreudig. So einfach es mir des abends fällt, in irgendeiner Gassenküche etwas Neues auszuprobieren, so ungern tue ich das am Morgen. Ich brauche meine verschiedenen kleinen Morgenrituale, welche ich auch hier so gut es geht beibehalte. Weshalb ich mir auch erlaube, wenn es ohne Schwierigkeiten geht, mir Frühstück nach westlicher Art zu bestellen – natürlich kostet das vier Mal soviel wie ein Gericht in der Gasse. Hier im Yellow River Youth Hostel in Chonqing – einer übrigens sehr empfehlenswerten Adresse – bestelle ich das Swiss Breakfast. Vier Toasts, Butter, Konfitüre, Spiegelei und zwei Stückchen in Plastik eingeschweissten Käse und dazu noch ein Swiss Müesli. Das besteht vorwiegend aus Äpfeln, Bananen, etwas Jogurt und noch weniger Müesliflocken. Gekrönt wird das ganze von ein paar halbierten Cherrytomätchen. Originell finde ich. Und für 3 Franken 50ig hätte ich das ganze in der Schweiz auch nicht bekommen.

Das chinesiche Essen ist ganz allgemein nicht nur sehr billig, sondern auch sehr gut. Und sehr vielseitig, jeden Tag sehe ich wieder eine neue Speise, die ich unbedingt ausprobieren muss. Seit ich meine kurze Durchfallattacke überwunden habe - damals widerstand mir der Geruch von chinesischem Essen für ein paar Tage - bin ich nun extrem begeistert von all den Speisen, hier in Sechuan meist sehr scharf, da muss man etwas aufpassen.





21. September, Chonqing

In China gibt es nicht zwei Karten oder Stadtpläne, die dasselbe darstellen. So sehe ich auf einer Karte im Hotel in Chonqing, dass ich doch nicht in der ersten Nacht bereits drei Schluchten durchfahren habe, sondern erst eine. Die übrigen folgten dann am nächsten Tag. Und die unterschiedlichen Stadtpläne, die ich bisher von Chonqing gesehen habe, gleichen sich wenig, ich entschliesse mich, am besten meinem Orientierungssinn zu folgen, schliesslich ist der Stadtkern halbinselartig von zwei Flüssen umgeben, die Hänge sind recht steil, eigentlich muss man da immer wieder auf einen Fluss fallen und sich orientieren können. Schwierig war etwas, das Zugticket zu organisieren, die Frau vom Hostel schrieb mir die Adresse chinesisch auf einen Zettel, so fragte ich mich durch. Die Leute waren allgemein sehr hilfreich, selbst diejenigen, die keine Ahnung hatten, wo dieses Büro war gaben Auskunft und so habe ich mich dem Ort langsam, in konzentrischen Suchbewegungen angenähert. Morgen fahre ich mit dem Zug nach Kunming. Das dauert viel länger als ich gedacht habe, rund 18 Stunden, die Züge sind offensichtlich in den gebirgigen Regionen auch nicht mehr so schnell.

China ist übrigens ein sehr gesundes Land, man muss immer viel herumlaufen. Die Strecken zwischen Bus- oder Metrostationen sind weiter entfernt, als dass ich mir das von europäischen Städten her gewohnt bin. Und Treppen gibt es auch unendlich viele. Vor allem rings um den drei Schluchten Stausee. Die neuen Ortschaften wurden nun alle etwa in gleicher Höhe in die Hänge gebaut, etwas über dem maximal möglichen Wasserpegel. Da nun jedoch der Wasserspiegel rund 20 Meter tiefer liegt, kommen da noch etliche Stufen dazu. Zwar hat es – oder ist vorgesehen – immer auch eine Zahnradbahn, doch wir kamen nur einmal an einer vorbei, die in Betrieb war.
Auch Chonqing ist eine gesunde Stadt. Nicht gerade wegen der starken Luftverschmutzung, doch weil die Ufer hier steil sind, kommt man genügend zum Treppensteigen. Gerade oberhalb des Hotels geht eine Gasse durch kleine alte Häuser über Treppen hinauf bis zu den grossen Strassen. Hier gibt es unendlich viele Garküchen und die meisten Sachen sehen sehr lecker aus. Einzig bei Tierischem bin ich etwas vorsichtig. Hühnerfüsse, Hühnerhälse, Schweineohren und noch viele Sachen, die ich nicht so genau beurteilen kann, meist glänzend gelb, rötlich oder dunkelbraun glasiert. Doch wenn man einfach auf die Sachen zeigt, die einem gefallen und sie sich frisch zubereiten lässt, dann war das bisher immer gut. Gerade oberhalb des Youth Hostels sind sich die Händler leider an westliche Touristen gewohnt, die Preise sind deshalb oft entsprechend, will heissen viel zu teuer. Ich muss das nächste Mal den Preis wieder im voraus fragen, dann gibt es keine Überraschungen, denn was abgemacht ist, das gilt in China.

Freitag, 25. September 2009



Yichang 17. Sept. 2009

Als ich in Yichang aus dem komfortablen Bus ausstieg in den sauberen und modernen Fernbusbahnhof, fragte mich auch schon eine Chinesin auf Englisch, ob ich Hilfe brauche. Eine ganz andere Stimmung hier, man erwartet und wartet ganz offensichtlich auf Touristen aus dem Ausland, der riesige Dreischluchtendamm ist eine Attraktion. Ich will schauen gehen, wie viel von diesem Naturschauspiel noch übrig geblieben ist. Und buche für den Abend eine Fahrt auf dem Yangtze, die Weiterreise ist nun fast etwas brüsk, Yichang scheint mir durchaus auch ein erkundungswürdiger Ort, verteilt auf unterschiedliche Hügel, mit einem grossen Park entlang des Flusses. Die Leute geben sich sehr Mühe mit uns Ausländern, selbst wenn sie wenig Englisch sprechen. Es kommt mir so vor, als sei hier bereits ein Typ mit irgend einem Kurs zur Serviceorientiertheit vorbeigekommen, um den Leuten zu zeigen, wie man sich bei Westlern gut benimmt und möglichst viel aus ihnen herausnimmt,.......und merke gerade: Ich habe hier noch niemanden spuken gehört. Das ist schon erwähnenswert, doch vielleicht ist das auch nur im Lärm untergegangen. - Die Frau mit der Gassenküche ist extrem nett auch ohne Managementkurs, zeigt mir all ihre frisch zerkleinerten Gemüse und bedeutet mir, auf einen Teller zu legen, was ich wolle, kommt dann mit einem Teller Hackfleisch, ich schüttle den Kopf, und schliesslich mit Eiern, wozu ich zustimmend nicke. Wunderbares gebratenes Gemüse mit Ei und weissem Reis gibt es heute Mittag.

Erstmals bin ich heute Bus gefahren und kam so in den Genuss chinesischer Autobahnen. Lustigerweise verengt sich die 10-spurige Stadtstrasse, die aus Wuhan hinausführt, zu einer vierspurigen Autobahn, was für uns gänzlich ungewohnt ist. Eine Peage hat es auch, eine elektronische, das wird einfach abgebucht, kein Anhalten der Fahrzeuge. Auf der Autobahn bin ich erstaunt, wie wenig Verkehr es hat. Kein Vergleich zu einer schweizerischen Autobahn. Auch kaum Lastwagen, die Güter werden wohl auf dem Fluss transportiert.
Reis-, Mais-, Kartoffelfelder schon bald, Lotusfelder ebenfalls, der wird im Wasser gepflanzt und seine Wurzeln werden ähnlich wie die des Manioks gegessen und haben auch einen ähnlichen Geschmack. Nur Löcher haben die Wurzelscheinben wie ein Emmentalerkäse. Und das Erstaunliche nun, die Landwirtschaft scheint noch hauptsächlich in Handarbeit erledigt zu werden, ich sehe nur ganz wenige Maschinen. Schwere, würdevolle Wasserbüffel werden zur Bearbeitung des Bodens eingesetzt, der Rest ist im allgemeinen Menschenkraft, auch die Reisgarben werden noch von Hand gebunden. Viele Leute mit Strohhüten in den erntebereiten Feldern. Tiere gibt es nur wenige. Wo halten denn die Chinesen all das Getier, dass man überall glänzend braun, rot oder gelb lackiert angeboten kriegt? Mir schienen sie doch recht grosse Fleischfresser zu sein.

Dienstag, 22. September 2009







Wuhan 2009-9-14

Apropos Gebräuche: Hier – wie bei vielem - sind unsere Vorstellungen falsch. Also rülpsen habe ich bisher noch keinen Chinesen gehört bei Tisch, überhaupt scheinen mir ihre Essensgewohnheiten sehr gepflegt bis sogar gestelzt. Nichts wird mit den Händen berührt, selbst Fleisch am Knochen und riesige Gebäckkugeln werden mit den Stäbchen aufgepickt und so genagt oder gegessen, ich muss da noch etwas üben. Was hingegen stimmt und für uns doch etwas gewöhnungsbedürftig ist, ist die allgegenwärtige Spuckerei. Kultivierte Leute werden sich hierfür einen Abfallkübel suchen oder die Sache sonst günstig platzieren, doch dieses hässlich laute Geräusch oft gleich neben den Ohren ist schon sehr gewöhnungsbedürftig. Vor allem, weil es gerade die Männer sehr lieben, die Spucke äusserst geräuschvoll heraufzuholen. - Auch heute Morgen wurde ich von solch einem lauten Spucken geweckt, natürlich nicht in meinem Zimmer. Mein Fenster blickt über die Dächer eines alten zweistöckigen Wohnquartieres hinweg und da unten leben die Leute eben ganz normal vor sich hin und waschen und sprechen und singen und spucken.

Nach einem kurzen Spaziergang durch den Park am Yangtse und später durch das koloniale Viertel habe ich mich getraut, in eines dieser Suppenrestaurants zu gehen, die drinnen und auf dem Trottoir ein paar Tische haben. Und bin schliesslich an einen Tisch gesessen, an dem bereits eine Chinesin sass. Die Raviolisuppe war ganz ausgezeichnet und meine Tischgenossin entpuppte sich als erstes englisch sprechendes Wesen in Hankou. Sie sprach sogar sehr gut, denn sie studiert Linguistik, so dass ich zu einem interessanten Gespräch kam und einem vollen, aber leichten Bauch, der sich momentan sogar ruhig verhält. Worüber ich sehr glücklich bin, denn die Lammkoteletten, die ich am Abend gegessen habe, waren von einer sehr scharfen Pfeffersauce bedeckt, die mir eine äusserst unangenehme Nacht gebracht hat, mit Messerstichen im Bauch und Durchfall.
Das einzig Störende hier ist der graue Himmel, den ich auf die Dauer deprimierend finde, obwohl die Sonne immer wieder heiss durchdrückt. Meine Tischnachbarin meinte, das sei die Jahreszeit, im Sommer sei der Himmel blau. Und natürlich auch der Smog. Doch nicht vergleichbar mit dem Zustand, wie er noch vor 10 Jahren existiert habe. - Dies also wäre nun der zweite Hochofen Chinas. Es ist deutlich wärmer als in Nanjing, aber für mich immer noch sehr angenehm.

Die Sache mit den Toiletten. Wahrheit und Gerüch(t)e. Erstmals: So schmutzig sind sie nun wirklich nicht. Auch hat es genügend öffentliche Toiletten, denn in vielen alten Quartieren haben die Häuser noch keine Badezimmer, so dass diese Gemeinschaftstoiletten eine Notwendigkeit sind. Heute sind das aber nicht mehr grosse, gemeinschaftliche Räume, sondern es gibt Abtrennungen. Allerdings sind die oft mit Türchen im Stile von Westernsaloons versehen, der Kopf beleibt dabei sichtbar und zusätzlich kann man sie häufig nicht abschliessen. Und selbst wenn dies möglich ist, scheinen es viele Frauen zu bevorzugen, die Türen offen stehen zu lassen - wahrscheinlich noch ein Relikt aus früheren Zeiten.

Wenn ich hier Probleme habe und man mich nicht verstehe, dann solle ich junge Leute suchen, meint die junge hübsche Chinesin, die mich mit ihrer Freundin in einem kleinen Supermarkt auf englisch anspricht. Junge Leute, meint sie, die müssten Englisch in der Schule lernen und würden das zumindest gut verstehen und mir helfen können. Sie selber spreche ein gutes Englisch, weil sie es liebe, amerikanische Filme zu schauen. Und doch, es habe noch andere Westler in der Stadt, erst vor drei Tagen habe sie mit welchen gesprochen. Die träfen sich spät abends unten am „Bund“, der Prachtpromenade entlang dem Yangtse River in den teuren Restaurants und Bars.
Einen Schwarzen – den ersten seit Shanghai – habe ich heute übrigens auch gesehen. Er war mit einer jungen Chinesin zusammen. Ein Feriensouvenir wahrscheinlich, China ist nicht wirklich ein Einwanderungsland. Auch wenn China dazu bereit wäre, würde das selbst für einen Afrikaner wenig Sinn machen, denn die Lebenskosten sind beispielsweise in Tanzania höher als in China, die Gehälter hier noch kleiner. Irgendetwas stimmt nicht so ganz an diesem Währungssystem. China und auch viele Teile von Osteuropa sind doch eigentlich viel zu billig für uns, wären es selbst für Afrikaner. Nimmt man das in Kauf, um im internationalen Wettbewerb besser gestellt zu sein oder gibt es noch andere Gründe, die ich einfach nicht durchschaue? Und: Wird der nun anwachsende Touristenstrom – auch von Ausländern, muss man sagen – die Preise hier ebenfalls in die Höhe schrauben, denn natürlich merkt man, dass sich selbst Rucksacktouristen viel mehr leisten können. Auch kriegen die Langnasen, die in China arbeiten kommen, westliche Saläre und haben damit viel Geld auszugeben verglichen mit den Einheimischen - und auch neue Bedürfnisse.

Apropos Tourismus: Auch dies etwas, das ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte: Die Chinesen lieben es nun, wo es möglich ist, herum zu reisen und Sehenswürdigkeiten anschauen zu gehen. Es ist nicht so, dass man als Westler in Tempeln oder königlichen Gärten oder Museen und weiterem, unter sich wäre, wie ich mir dies von Afrika her gewohnt bin. Ganz im Gegenteil, unter den unheimlichen Mengen chinesischer Touristen fallen die wenigen Langnasen auch dort auf.



Wuhan, 16. 9. 2009

Gestern Nachmittag im Park hatte ich grossen Hunger und ging deshalb ins Teehaus - in diesen Parks gibt es immer Teehäuser - und fragte, ob ich etwas essen könne. Die Kellnerin rannte davon und holte eine andere junge Frau, die sich sehr Mühe gab englisch zu sprechen. Ihre Kenntnisse waren minimal, doch sie war freundlich, und da es keine Speisekarte gab in unseren Buchstaben und auch sonst niemand dort am essen war, dem ich hätte ins Teller gucken können, gab ich ihr zu verstehen, das ich gerne das Essen sehen würde. Sofort führte sie mich in einen grossen düsteren Raum, wo ich zwei dösende Köche sah und dann in eine Art abgeteilte Speisekammer, in der vor allem Gemüse gelagert wurde. Ich zeigte auf ein paar Kohlköpfe, das hätte ich gerne. Sie meinte dann noch „beef“ und ich willigte ein, denn ich fand das eine gute Kombination. Zurück im Speisesaal machte ich mich auf eine grössere Warterei gefasst - doch oh Wunder - kaum kam ich von der Toilette zurück, da wurde bereits ein grosser Teller mit feinen Rindfleischscheiben, Frühlingszwiebeln und Peperoni auf den Tisch gestellt. Kurz darauf kam ein weiterer grosser Teller voll grob geschnittem Kabis gedämpft in Sojasauce. Beides war exquisit und ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie die Köche dies ohne Vorbereitung in derartig kurzer Zeit hervorgezaubert hatten.

Ein weiteres kleines Wunder erlebte ich dann etwas später an diesem Tag. Die Fährboote halten in Hankou gleich an dieser breiten, stark befahrenen Strasse entlang dem Yangse. Die ganze Passagierladung des Schiffes kam nun gleichzeitig zu der grossen Strasse. Ohne anzuhalten ergoss sich der Menschenstrom über die Fahrbahnen und wirklich, unglaublich, stoppte so ganz einfach den Fahrzeugverkehr, kein Hupen, kein brüskes Bremsen, keine Ampel, kein Polizist, der dabei geholfen hätte. Überhaupt erscheint mir hier der ganze Verkehr wie ein einziges amöbisches Wesen, das zwangsläufig all seine Bewegungen koordiniert. Und wie Moses durch das Meer, so gelangten nun die Fussgänger über die breite Strasse und sobald sie drüben waren, da schlossen sich die Autofluten auch bereits wieder. – Ich persönlich bin noch nicht Teil dieses Wesens. Ganz alleine kann ich keine 8-spurige Strasse überqueren und muss deshalb immer warten, bis ein Chinese ebenfalls hinüber will. Dem hefte ich mich dann sofort mit simultanen Bewegungen an die Fersen und werde so durch den Verkehr navigiert.




Wuhan 2009-9-14

Heute wird geduldig Schlange gestanden vor den Postämtern und auch vor den Filialen der „Bank of China“. Ist wohl Zahltag?

Das „Wuhan Art Museum“ ist gleich um die Ecke. In unseren Schriftzeichen angeschrieben finde ich ferner noch „glorious history“. Und 9-17, tickets until 16. Um zehn Uhr morgens aber ist die Türe verschlossen. So wie sie es gestern Nachmittag auch war. All das Übrige, das auf den Schildern steht, verstehe ich leider nicht, es ist nur in chinesischen Schriftzeichen geschrieben.

Nicht weit von meinem Hotel gibt es ein Restaurant, das auf dem breiten Gehsteig bis zur Strasse hin unter den Platanen niedrige Zäunchen aufgestellt hat und darin verschiedene Laufvögel hält, Wachteln, Truthahnartiges, Pfauen und Hühner, Weisse und Schwarze Schwäne. Eigentlich könnten die gut entweichen, doch tun sie das offensichtlich nicht, es gibt ja genug Futter. Tauben dann, wohl zum Essen, zu mehreren in engen Käfigen, und dazwischen ein paar Aras angekettet auf ihren Stangen. Um 10 Uhr abends immer noch grelles Licht und viel Lärm. Die grossen Urwaldvgel scheinen mir unendlich müde und traurig, sind aber immer noch wach. Mitten unter diesen Vögeln dann noch ein enger Käfig, in dem eine einzelne schwarz-weisse Katze gehalten wird. Sie kann sich kaum bewegen und liegt meist apathisch herum. Ihre Bestrafung, weil sie versucht hat, sich etwas vom Federvieh zu schnappen? Jetzt sitzen die Vögel auf ihrem Käfigdach, sie scheinen keine Ahnung davon zu haben, dass dies eigentlich ein Feind ist. Oder machen sie sich über die Katze lustig?

Chinas Verhältnis zu Tieren. Besser nicht hinschauen, meint Geri. Und hat wohl recht damit. Hunde werden immer beliebter, vor allem Schosshunde. Ich verstehe dies in dem Sinne, das wohl manche Frauen mit der 1-Kind-Politik ihre mütterlichen Triebe nicht voll ausleben können. Die Tiere werden oft wahnsinnig verhätschelt. In einem Park in Nanjing schauen wir zu, wie drei Frauen mit zwei Pudeln grillen. Viel Fleisch wird gebraten, auch Mais und Kartoffeln. Und die beiden Pudel sitzen mit den Frauen am Tisch. Die Pudel allerdings nicht auf den Bänken, sondern direkt auf dem Tisch. Mir graust davor. Des abends, beim Einnachten, sieht man die Frauen mit ihren Hündchen und auch diejenigen mit ihren Kleinkindern draussen promenieren. Tiergerecht ist auch das nicht besonders. Kindergerecht vielleicht auch nicht.

Ich gehe von der Fussgängerzone aus Südwärts, denn es nimmt mich Wunder, ob ich diese Jugendherberge, die in dem Führer sehr angepriesen wird, doch noch finde. Die Telefonnummer war leider nicht richtig. Als ich in die Gegend komme, verstehe ich warum. Der ganze Stadtteil dort, eine Riesenfläche, vielleicht die Hälfte der Altstadt von Bern, ist gerade niedergelegt worden, hohe Wohntürme schiessen aus der Baugrube heraus. Auch den lobend beschriebenen Jugendstilbau in der Fussgängerzone, den ich in meinem Reiseführer gefunden habe, den habe ich leider bisher nicht gesehen und erwarte so Schlimmstes. China wandelt sich eben in einem Tempo, das wir uns gar nicht vorstellen können. Keine Ahnung, wie die Chinesen da mithalten, die müssen uns etwas voraushaben.

Wuhan liegt am Yangzi genau dort, wo ein Nebenfluss, der Han Jiang hinzuströmt. Der Strom ist hier wohl einen Kilometer breit. Eigentlich besteht die Stadt aus drei ursprünglich unabhängigen Teilen, aus Hankou, wo mein Hotel liegt und noch ein einigermassen intaktes koloniales Quartier erhalten geblieben ist, aus Hanyang südwärts des Nebenflusses und aus Wuchang am Ostufer des Yangtse. Zusammen soll das rund 5 Millionen Einwohner geben. Und irgendwie ist mir diese Stadt ans Herz gewachsen. Es ist hier zwar nicht ganz einfach, weil wenige Leute englisch sprechen und kaum westliche Touristen vorbeikommen, doch ist alles recht übersichtlich. Heute bin ich mit einem der Fährboote, die viertelstündlich nach Wuchang fahren, in diesen Stadtteil gegangen. Und habe damit nun doch erstmals den Yangtse befahren. In Nanjing, wo ich ursprünglich einsteigen wollte, um mit dem Boot hierher zu gelangen, habe ich es dann nämlich nicht geschafft. Zu erbärmlich erschien mir dieser träge braune Strom unter dem dunstiggrauen Dämmerlicht. Das Fährboot hatte innen ein Labyrinth von düsteren, mit dunkelbraunen Spannteppichen ausgeschlagenen Gängen, „Barton Fink“ lässt grüssen, die Kabinen waren klein und vergammelt. Als ich mir vorstellte, dass ich darauf drei Nächte verbringen sollte, da kamen Weltuntergangsstimmungen in mir auf, besser die Titanic in Sicht, ein beengendes Gefühl. Und so bin ich dann eben in drei Stunden mit dem neusten Superschnellzug hierher gekommen.

Wuchang auf der anderen Seite des Stromes entpuppt sich ebenfalls als sehr angenehmer Ort, hier liegt die Universität der Region. Erst bin ich auf einen bewaldeten Hügel hinaufgestiegen, auf welchem der „Turm des gelben Kranichs“ steht. Ein Park mit Pagode, von welcher man eine ausgezeichnete Aussicht über die Region hat. Allerdings versinkt auch hier der Horizont recht rasch in ein Einheitsgrau. Über den Yangse führt eine doppelstöckige Eisenbrücke auf die andere Seite nach Hanyang. Auf dem unteren Geschoss fährt die Eisenbahn, oben ist reger Verkehr. Durch einen neu nachgebauten kolonialen Strassenzug, Fussgängerzone mit Läden, auch Alleebäume sind frisch angepflanzt, gelange ich hinunter in den Park beim Brückenkopf. Dieses neu bebaute Gelände ist übrigens erstaunlich gut herausgekommen. Die Häuser sind alle in Backstein gebaut, die meisten in einem für uns ungewohnt grauen, einige auch rot oder gelblich. Das ganze wirkt natürlich gewachsen und nicht kitschig, nimmt zwischendurch auch moderne Elemente auf. – Und drüben in Hankou zerfallen immer noch alte Kolonialbauten und werden durch Wolkenkratzer ersetzt. Aber das ist wohl chinesische Mentalität. Man bevorzugt den Neubau, vor der Renovation. Und das Kopieren ist überhaupt nicht anrüchig. Hier bei diesem wirklich gelungenen Beispiel bin auch ich zufrieden damit. - Zurück zum Brückenkopf. Unten im Park sind Scharen von älteren Leuten - Handikapierte auch, scheint mir - daran um kleine Tischchen herum auf winzigen Sitzen Karten zu spielen. Um Geld natürlich, die Chinesen sind leidenschaftliche Spieler. Und eine Kakophonie unterschiedlichster Musik klingt herüber, der ich nun folge. Ich treffe auf ein Grüppchen älterer Leute, die um ein paar Musiker mit merkwürdigen Instrumenten herumsitzen. Ein Mikrophon gibt es auch und eine Frau singt zu den Melodien. Sofort wird mir freundlich ein Plastikstuhl angeboten, fotografieren darf ich auch, natürlich, und werde auch fotografiert. Unangenehm ist nur, dass mein Fotoapparat bereits einer älteren Generation angehört. Alle übrigen zeigen mir erfreut ihr Foto von mir auf viel grösseren Displays. Item, hier endet die Musik dann bald einmal und so gehe ich zur nächsten Gruppe, einer viel grösseren, wo Sängerinnen ihr bestes zu moderner chinesischer Musik geben. Auch hier bietet mir rasch ein chinesischer Crooner, Stil Frank Sinatra, Wellenlocke über der Stirn, weisse Hosen und weisse Schuhe, einen Plastikstuhl an und dann auch noch ein Glas Tee auf einem Plastiktischchen. Und will nichts dafür. Ich schaue dem bunten Treiben dort lange zu und begreife trotzdem nicht so recht, Leute, meist Männer, gehen zu der Sängerin, schmeissen einen Geldschein in den Kübel und nehmen eine oder mehrere künstliche rote Rosen aus einem weiteren Kübel und strecken sie der Sängerin zu. Der Kübel wird zwischendurch geleert, einmal ein Geldschein herumgezeigt, eine 100 Yuan Note und einmal geht eine der Sängerinnen herum und offeriert all den Geldspendern eine Zigarette. Im Allgemeinen scheinen mir diese Männer eher schmierige Typen, einer schmeisst eine Handvoll Geldscheine in die Luft, die dann rasch von den Helfern zusammengelesen werden. Doch auch eine Frau mit verkrüppelten Händen spendet viel Geld in den Topf.
Gleich nebenan führt eine lange breite Treppe hinab zum Fluss, wo sich eine Ansammlung von Menschen findet. Ich bin neugierig und sehe, wie zwei Männer mit Schwimmbrille und Badekappe sich eben startklar machen. In einem Plastiksack auf einen Schwimmring gepackt ziehen sie ihre Kleider im Fluss hinter sich her. Zielstrebig schwimmen sie durch die trüben braunen Fluten dem weit entfernten gegenüber liegenden Ufer zu, wobei sie von der Strömung flussabwärts getragen werden. Mitten in diesem trüben und wohl stark verschmutzten Wasser. Mitten zwischen den, doch recht vielen grossen Lastkähnen und Fährbooten hindurch. Später kommen noch etliche Männer, sogar Frauen, und stürzen sich in die Fluten. Meist ziehen sie hinter sich einen orangen Ball durchs Wasser. Wohl dass man sie besser sieht. - Ich bin gänzlich fasziniert von diesem fröhlichen Freizeittreiben in solch einer Riesenstadt, die für uns Westler doch rech wenig Liebenswürdiges hat.




13.September 2009

Heute Nachmittag bin ich mit dem Zug mit 250km pro Stunde Richtung Westen gebraust durch bereits viel schönere Landschaften als bisher. Eine grosse Stadt dazwischen, keine Ahnung wie die hiess, doch sonst im grossen und ganzen Landwirtschaft, teils sogar recht einsam, Hügelchen, die aus dem Dunst aufragen, Felder und zwischendurch kleinere Siedlungen, die jedoch nicht romantisch schön sind, wie wir uns ein Bauerndorf vorstellen. Meist neuere zweckmässige Häuser, zwei- oder dreistöckig, im allgemeinen in Reihen, Aussehen immer ähnlich.
Dann Ankunft in Hankou. Nicht im Bahnhof, denn der existiert noch nicht wirklich, sondern ist eine riesige Baustelle. Kilometerweit, schien mir, mussten wir zwischen Bauschranken, teils auch unterirdisch in Tunneln, hinausgehen und landeten schliesslich in irgendeiner Strasse, wo es weder Busse, Taxis noch sonst etwas hatte, das es normalerweise in der Nähe eines Bahnhofes gibt. Und in diesem ganzen Menschenzug aus dem Zug, der sich da langsam in die Stadt ergoss, war ich die einzige Langnase. Recht rasch wurde ich angequatscht wegen Mitfahrgelegenheit, allerdings waren das keine Taxifahrer und hatten auch keine Zähler. Und wollten alle 40 Yuan. Mit Händen und Füssen einigte ich mich mit einem Typen, der mir sympathisch schien, auf 30 Yuan. Allerdings kannte der die Stadt kaum und konnte mich nur ungefähr an den gewünschten Ort bringen. So bin ich dann irgendwo an dem „Bund“, der breiten Strasse, die dem Yangtse entlang führt, ausgestiegen und zu Fuss weiter gegangen. Die Strassen sind hier gut angeschrieben, da gibt es nichts zu klagen, doch ich habe keinen genauen Stadtplan und leider wollte immer noch niemand meine chinesische Aussprache verstehen und auch das, was ich geschrieben habe – leider nicht in chinesischen Zeichen, da war ich zu faul - das konnten sie nicht lesen. Und so wollte mir niemand helfen und auch kein Taxifahrer wollte mich mitnehmen. Ich bin dann recht weit zu Fuss gegangen, wusste auch nie so genau, wo ich wirklich war, zwischendurch war es auch etwas schmuddelig, und wurde schon etwas müde und auch sehr durstig, doch es dunkelte, da gab es kein Pardon. Bis ich wieder einmal stehen bleib und etwas Luft holte und als ich zu einem Eingang hineinschaute, da hatte ich das Gefühl, dass dies eine Hotellobby sein musste. In unserer Sprache war nichts angeschrieben und das Fräulein dort sprach auch kein Englisch, verstand aber schliesslich doch, dass ich ein Zimmer wollte und das erst anschauen. Das Zimmer nun ist riesengross, wohl fast 30 Quadratmeter, sauber, hell, mit einem merkwürdigen Plastikholzriemenboden, der eher einem Marmor gleicht vom Farbton her, aber gar nicht so übel aussieht, und einem Badezimmer in Form einer Philipp Stark Imitation. Überhaupt nicht stinkend und durch Milchglasscheiben vom übrigen Raum abgetrennt. Alles schlicht, sauber und modern und Sicht über die Dächer der zweistöckigen Häuser bis zu einem Hochhaus weit entfernt. Und ruhig ebenfalls.
Ich habe später festgestellt, dass mein Hotel ein altes koloniales Gebäude ist, frisch renoviert, allerdings nur drinnen, mit sehr hohen Stockwerken. Mitten im kolonialen Viertel von Hankou gelegen, zwischen dem Fluss und der grossen Geschäftsstrasse Zhongshan Dadao an einer durch Alleebäume beschatteten Strasse die Nanjing Lu heisst. - Mit den Strassennamen ist es übrigens in China recht einfach. Entweder heissen sie in allen Orten gleich, etwa „Zhongshan“ oder „Pingjiang“ oder dann nach anderen Städten, was recht einfach ist, sich einzuprägen.





Nanjing 2009-9-12

Der Wassereimer, der unten mitten im Gang der Herberge stand, weil offensichtlich eine Wasserleitung in der Decke leckte, ist heute Morgen, am dritten Tag meiner Anwesenheit hier, verschwunden. Mir fällt das auf, ich hätte es nicht erwartet. Denn die Glühbirne, die in unserem Zimmer kaputt ist, und worüber sich Geri beklagt hat, wurde nie ersetzt. Überhaupt ist das Hotelzimmer von dieser merkwürdigen kommunistischen Abgefucktheit, die ich auch schon in Osteuropa erlebt habe. Fernseher zwar, Schränke, Stühle, Spiegel, Tischchen und Nachttischchen, Vorhänge und Spannteppiche, alles ist da. Und alles etwas schmuddelig und vergammelt. Der Spannteppich mit Flecken, die Schranktüren schief, die Vorhänge heruntergerissen, der Fernseher funktioniert nicht. - Und der Vergleich mit Afrika. Dort ist in einem einfacheren Hotel einfach nichts. Roher Betonboden, ein Bett mit Moskitonetz, wenn es ganz hoch geht vielleicht ein Stuhl und ein Hacken an der Wand. Trotzdem wirkt dies auf mich weniger trostlos. Aber dann auch die Preise: China ist immer noch wesentlich billiger als Afrika. Für 20.- bis 25.- Franken gibt es in Afrika an Orten, die einfach von Touristen erreicht werden können, kaum ein Hotelzimmer mehr.

Und wo ich mich wirklich in meinen Vorstellungen von China getäuscht habe: China scheint mir nun wirklich kein Schwellenland mehr zu sein. In vielem haben uns die Chinesen bereits überholt. Städte in amerikanischem Stil – Geri, die Amerika kennt, meint, nur chaotischer und lauter. All diese Wolkenkratzer, Statussymbole wohl häufig, da gibt es nicht nur langweilige Einheitsarchitektur. Und zwischen Shanghai und Nanjing, das sind gut 300km, die ein Schnellzug in 2 Stunden durchrast, kommt man eigentlich nie wirklich aus dem Häusermeer heraus. Gebaut wird überall, neue Strassen, neue Zugtrassees, neue Untergrundbahnen, das Land ist eine einzige Baustelle. Ganz unglaublich, dass bei diesem Tempo alles funktioniert und eine gute Infrastruktur vorhanden ist. Die Untergrundbahnen funktionieren mit elektronischen Karten, die automatisch abgebucht werden, wenn man das Portemonnaie darüber hält, kein mühsames Auspacken mehr und in Shanghai kann man damit auch gleich noch die Taxifahrer bezahlen, „Brave new world“, nix von rückständig, die Chinesen haben uns klammheimlich überrundet - mindestens soweit ich nun Einblick habe. Ein grosser Teil der Bevölkerung lebt jetzt in diesen riesigen Ballungszentren, da gehört die rückständige Landbevölkerung - ähnlich wie bei uns der Senn auf der Alp - wohl eher einer aussterbenden Spezies an.

Was sich zwischen Shanghai und Nanjing geändert hat? Eigentlich nicht allzu viel. Immer noch Riesenstädte, Wolkenkratzer, enorm viele Menschen, viel Lärm, der Himmel ist häufig grau, die Sonne nie voll scheinend. Die Temperaturen hingegen sind angenehm. Am Abend sogar etwas kühl, man kann ein T-shirt gebrauchen. Tagsüber geht man auch hier eher dem Schatten nach, aber die Hitze ist nicht übertrieben, obwohl man Nanjing einen der drei Hochöfen Chinas nennt. Gestern meinte ein junger Student, so Mitte Oktober, da werde es kalt sein, so um die 16 Grad. Dennoch betrachte ich etwas misstrauisch, wie Frauen, viele Chinesinnen scheinen das auch zu lieben, sich dicke Pullover stricken. – Daneben ist hier alles etwas weniger perfekt als in der Vorzeigestadt Shanghai – obwohl das mit der Metro und dem neuen Bahnhof auch nicht stimmt – und etwas schmutziger. Doch immer noch weit entfernt von dem, was ich mir vorgestellt habe.







Suzhou 2009-9-09

Gestern Mittag sind wir bei melancholisch herbstgrauem Himmel oder Smog, mir ist das nicht so klar, hier in Suzhou angekommen. Der Schnellzug braucht eine halbe Stunde von Shanghai her, beidseits der Geleise wird gebaut, vor allem Strassen, vielleicht auch Zugtrasses, meist auf Stelzen, und führen ins Nirgendwo. Doch man plant Grösseres, das ist klar. Richtig slumartige Strukturen, wie um andere Städte herum, gibt es nicht, weiterhin entweder riesige Hochhäuser oder noch kleine ein- bis zweistöckige Häuser mit Gärtchen, den überall sehr häufigen Flussläufen entlang. Gemüsebau auch immer wieder dazwischen. Im Wagen ist es eisigkalt hinuntergekühlt, was hier Weichklasse genannt wird entspricht unserer 1.Klasse, Zugkompositionen Stil TGV, auch hier sind uns die Chinesen um nichts hintennach. Im Gegenteil: Das Besteigen der Züge gleicht einem Boarding im Flugzeug. Sicherheitscheque wenn man den Bahnhof betritt, dann Wartehallen für die einzelnen Züge, dann geordneter Einstieg, jeder hat seinen nummerierten Platz.

In Suzhou – eine Millionenstadt auch sie, meine romantische Idee, hier in einem Städtchen zu landen schwindet rasch – bringt uns der Taxifahrer in die lauschigste Ecke weit und breit. Ein geschütztes Quartier mit gepflasterten Fussgängergassen entlang eines Kanales, alte, gebogene Steinbrücken überqueren diesen und gesäumt wird er von Alleebäumen. Alles alte, niedrige Häuser, dick mit grauen Ziegeln gedeckt, meist an den Ecken aufgeschwungenen Dächer, kleine Hinterhöfe. Ich bin begeistert von dem Ort und auch mein Hotelzimmer ist allerliebst. Zwar winzig, aber mit alten dunklen Holzmöbeln möbliert, die sich in dem neu renovierten hochgiebeligen Raum sehr gut machen. Das Badezimmer ist modern, eine Toilettenspülung wie bei uns in den Schnellzügen und die Deckel im Lavabo, die das Wasser zurückhalten, sind von einer derartig genial einfachen Idee, dass ich mich frage, weshalb dies uns in Europa nie in den Sinn gekommen ist. Ein perfekter Ort zum Verweilen. Höchste Technologie auch hier, obwohl das ganze unter „Youth Hostel“ läuft und in der mittleren Preisklasse liegt, ich bezahle für das Zimmer rund 25.- Franken. Kein Schlüssel mehr, das Zimmer wird mit einer elektronischen Karte geöffnet, die gleich auch den Strom einschaltet, einzig die knarrende, etwas sperrende Türe kratzt etwas am Heiligenschein.

Ausgewählte Ausschnitte aus dem Ganzen wollen die klassisch chinesischen Gärten – wofür die Stadt bekannt ist – zeigen. Daran erinnert mich auch das Glück, genau in diesem Quartier ein Hotel gebucht zu haben. Die Stadt ist im allgemeinen nicht wahnsinnig schön, was ich beim ersten Spaziergang rasch merke. Gleich einsamen Inseln im grossen grauen Einerlei sind die wenigen erhaltenen alten Teile der Stadt eingestreut. Zum Glück viele grüne, Schatten spendende Alleen, viele Kanäle auch, doch selbst wenn es im Zentrum keine Wolkenkratzer hat, so ist doch das meiste eher mässige kommunistische Einheitsarchitektur. Meist wird eine Serie Häuser von einer Mauer umgeben, und kann nur von einem Eingang her betreten werden. Das, was man im Englischen „compound“ nennt. Hier dient es wohl zur Kontrolle der Leute, am Eingang steht immer ein Wachmann, der so den Überblick hat, wer hinausgeht und wer hereinkommt. Die Fassaden sind im allgemeinen weiss, mehr oder weniger schmutzig, häufig in Quader geteilt, es scheinen Fassadenplatten zu sein, manchmal auch kleinere weisse Plättli. Und überall und riesig Leuchtreklamen, etwas amerikasüchtig sind sie ja schon. Mit schnörkeligen chinesischen Verzierungen immerhin. Und natürlich in ihrer wundervollen Schrift, einer Zierde an und für sich.

Als ich heute Morgen vor acht Uhr früh das Hotel verlasse, um vor den Führern mit Megaphon in den Gärten zu sein, werde ich von einer unglaublichen Menschenmasse umflutet. Auf der Fussgängerstrasse fahren tonnenweise Velos und Motorräder und eine Art geräuschlose Elektrozweiräder, bei denen nicht pedalt wird. Unheimlich geräuschlos flitzen die herum. Als ich die sechspurige grössere Strasse überqueren will glaube ich das kaum. Beidseits der Autospuren noch breite, abgetrennte Bahnen mit diesen Zweirädern, die noch abenteuerlicher als die Autos durch die Strassen flitzen. Bis das alles überquert ist! Doch der Verkehr hier hat etwas ganz besonderes und unerklärliches an sich. Rasch und sehr bestimmt, konzentriert auch, bewegen sich alle chaotisch durch das Gewühl. Viel Hupen zwar, doch sieht man kaum Drängeln, auch selten brüskes Abbremsen, die Verkehrsteilnehmer scheinen sich wie negative Magnete abzustossen, aus unerfindlichen Gründen immer nur knapp zu touchieren. Und merkwürdigerweise einmal konzentriert im Menschenstrom, klappt das auch bei mir ganz gut. Man darf einfach nie abbremsen. Nur ganz selten sieht man einen Zweiradfahrer abstehen, meistens geht das ohne.

Kinder sieht man wenige. Das ist etwas ganz Auffälliges hier in China und sehr gegensätzlich zu Afrika. Die 1-Kind-Politik hat ihre Wirkung gezeigt, auch wenn man nun wieder zwei Kinder haben darf, denn ein drastischer Bevölkerungsrückgang ist nicht einfach zu bewältigen. Behinderte Leute sieht man kaum, wie wollten die auch in dieser raschen und entschlossenen Gesellschaft überleben, unmöglich da aus dem Hause zu gehen. Alte Leute, die man draussen sieht, sind rüstig. Chinesen kümmern sich sehr um ihre Gesundheit. Auf den Speisekarten steht häufig nebst einer poetischen Beschreibung der Speisen auch etwas über ihren gesundheitlichen Wert. Leibesübungen machen sie gerne und ungeniert in der Öffentlichkeit. Hier in Suzhou sehe ich Gruppen von Frauen des Morgens, aber auch nach der Arbeit am Abend unter Anleitung auf öffentlichen Plätzen, auch kleinsten, wo es eben gerade geht, zu Musik rhythmische Übungen machen. Tai Tshi ist das nicht, das sieht europäischer aus, eine Art Tanz, doch jeder alleine und in ordentlichen Reihen simultan. Hier sind es nur Frauen, die Männer sind manchmal Zuschauer.

Zurück zu den berühmten Gärten von Suzhou. Diese Gartenpaläste sind wunderbar, viele schon sehr alt - Chinas Kultur hat vor 6000 Jahren begonnen – und von exquisitem Geschmack, ich habe noch selten so etwas Schönes gesehen. Nicht dass sie voller Blumen wären. Jetzt ist auch nicht Saison, das ist wahr, doch brauchen diese Gärten eigentlich gar keine Blüten, ihr Zauber liegt in der exakten Komposition. In den Gegensätzen auch, lese ich, Licht und Schatten, natürlich und künstlich, weich und hart, Wasser und Fels. Und den Abgrenzungen. Die Anlagen sind in einzelne, labyrinthartig durch Mauern begegrenzte, hofartige Räume eingeteilt. Fenster, mit kunstvollen Gitterstrukturen, geben den Blick in angrenzende Gartenräume frei. Ausschnitte immer nur und immer wieder anders. Dazwischen kleine Paläste mit geschwungenen Giebeln, die hölzernen Fenstergitter wurden früher im Winter mit Papier überzogen, damit die Kälte draussen blieb. In vielen der Häuser findet man auch noch die ursprüngliche Einrichtung. Und erst jetzt realisiere ich: Das ist ja Jugendstil! Beziehungsweise hat der Jugendstil ganz bestimmt und offensichtlich von der chinesischen Kultur abgekupfert. Und wir Westler beklagen uns immer, dass die Chinesen uns alles kopieren würden! Vor gut hundert Jahren war das bestimmt umgekehrt. Die ganze Ornamentik, häufig sehr abstrakt, extrem elegant auch, findet man doch fast genau gleich im Jugenstil wieder. Ein Kuriosum sind die, aus Wurzelstöcken geformten Sessel, die etwas wuchtig natürlich gewachsen wirken sollen. Etwas ganz Ähnliches habe ich bei den, zwar aus Beton gearbeiteten, Zaungeflechten in Biarrizz gesehen, die vorgeben, aus knorrigen Ästen geformt zu sein. – Ich bin wohl die Einzige, die nichts vom Zusammenhang zwischen chinesischer Kunst und Jugendstil gewusst hat, jetzt sind mir wie Schuppen von den Augen gefallen.

Ein Faible hatten die chinesischen Gärtner für originell geformte Felsbrocken, die teils zu ganzen Bergmassiven aufgeschichtet wurden. Die Steine hier in Suzhou, häufig durchlöchert, sollen ausgewählt und grob geformt worden sein, um dann noch jahrelang in der Tiefe eines Flusses ihre „natürliche“ Endform zu erlangen. Nebst Felsmassiven ist für einen chinesischen Garten Wasser unabdinglich. In den Wasserflächen eines Teiches spiegelt sich die sorgfältig komponierte Landschaft gleich nochmals. Auch die Pflanzen selber, meist Bäume, viele skurril geformte Kiefern und andere Nadelbäume, Kirschensorten und tropische Laubbäume, aber auch Bananenstauden und natürlich Bambus, haben selten ihre natürliche Form. Da hat der Gärtner formend eingegriffen. Häufig findet man auch Riesentöpfe mit eigentlichen Bonsais, die geschickt im Garten verteilt stehen. Nebst Bäumen hat es verschiedene Büsche, Granatäpfel etwa sind beliebt, auch Oleander und Azaleen, Rosen manchmal, Kletterpflanzen und als Bodendecker dort, wo nicht Fels oder kunstvolle Pflasterung ist, vor allem grasartig Aussehendes, eine Art Scillas, da muss im Frühjahr eine Blütenwolke sein.

Ein weiteres Merkmal der Gärten sind die zickzack in rechten Winkeln über Teiche und Flussarme laufenden Brücken. Oder auch die Wände, die gleich nach einem Eingang auftauchen können und rechts oder links umlaufen werden müssen. Wegen der Dämonen heisst es. Die sind nämlich dumm und können nur geradeaus laufen. Fügt man also harte Ecken in den Weg ein, so hindert dies die bösen Dämonen am Durchgang.

Über das Grillenzirpen. Die Parks sind voll davon. Mich erinnert das immer an Ferien am Mittelmeer. Es muss auch für Chinesen etwas Schönes sein. Sie holen sich dieses Glücksgefühl ins eigene Haus und halten in winzigen Käfigen zirpende Grillen. Genauso wie ich auch schon Fische in winzigen Gläsern gesehen habe oder Hunde und Katzen und Vögel in Käfigen, in denen sie sich kaum drehen können. Immerhin gehen die Chinesen dafür mit ihnen Spazieren, bringen Vögel und Grillen in Parks und auf die Strassen. Ob die das so lieben ist zweifelhaft.

Während der Kulturrevolution waren Haustiere verboten. Katzen und Hunde galten als bourgeois und Überbleibsel aus einer überholten Zeit. Sie wurden getötet. Auch Gärten und Parks galten als bourgeois und veraltet, sie wurden zerstört und selbst vor Topfpflanzen gab es keinen Halt. Genauso wie alle Kunst, Bilder, Schriftbänder und alles was aus dem Westen kam. Ein Wunder eigentlich, dass doch noch etwas von dieser riesigen Hochkultur, die doch erst vor rund 150 Jahren erloschen ist, noch überlebt hat.

Heute scheinen die Chinesen einen Nachholbedarf zu haben. Pflanzen sind sehr beliebt und werden gehegt. Auch Haustiere gibt es wieder, Katzen und immer mehr Hunde, jedoch meist kleine. Doch für die Tiere scheinen sie keine denen entsprechenden Gefühle zu entwickeln, mindestens sehen wir das so. Die Pflanzen wachsen zwar sehr gut und üppig, doch haben die Chinesen auch zu ihnen ein anderes Verhältnis als wir. Die Pflanzen sind ästhetisches Rohmaterial, werden geformt und gezielt eingesetzt. Eigentlich nicht mein Geschmack. Doch das Resultat, die Gartenanlagen, das muss ich zugeben, sind überwältigend.


3. September 2009
Shanghai Airport. Viel zu gross und leer um sieben Uhr morgens, doch sauber, neu und gut unterhalten. Dimensioniert für die Expo nächstes Jahr, erklärt mir Geri. Die Schnellstrasse Richtung Zentrum ist auf beiden Seiten von parkartigen Streifen gesäumt, man sieht nicht, was sich dahinter verbirgt. Tropisch grün und blühend. Kilometerlang geht es auf der zehnspurigen Autobahn recht flüssig vorwärts. Später, als riesige Wohntürme die Strasse zu säumen beginnen, dann Lärmschutzwände, etwas das mich erstaunt, rückständig ist man hier also nicht. - Eine Tatsache, die ich später noch mehrmals bestätigt finden werde.

Ich wohne bei Geri und August in einem zentral gelegenen Hochhaus. Der Ausblick vom 23. Stockwerk ist für mich erst einmal schwindelerregend, doch merkwürdigerweise gewöhne ich mich recht rasch daran. Der Lärm der Stadt dringt nur noch als dumpfes Grollen bis dort hinauf und durch die Wohnung streicht ein angenehmer Wind.

Unsere erste Aktion ist der Besuch eines Massagesalons in dem uns, für umgerechnet etwa 5 Franken, eine Stunde lang die Füsse zuerst gebadet und dann massiert werden. Extrem entspannend und gut zu wissen, dass dies in China offensichtlich zum Alltag gehört. Man pflegt seinen Körper. Sei dies durch Übungen, gute Nahrung oder eben auch Massage.