Dienstag, 29. September 2009
26. September, Lijiang
Die Chinesen haben nicht auf uns gewartet. Dies wird mir sehr bewusst hier oben, auf 2150m Höhe in einem breiten Tal, fast wie in der Schweiz. Auch Klimatisch, seit ich vor drei Tagen angekommen bin, hat es mehr oder weniger immer geregnet. Und ist kühl, um die 16 Grad. Drinnen wie draussen, denn die Häuser scheinen hier für warme Temperaturen gebaut worden zu sein. Das erinnert mich an eine Reise vor mehr als 30 Jahren im Dezember nach Nordafrika. Das wurde sehr viel kälter als erwartet. Und was ich einfach nicht verstanden habe war, dass die Leute in den Kaffees die Türen und Fenster selbst dann nicht schlossen, wenn solche vorhanden waren. Sich in ihre dicken Dschelabas mit Kapuze einmummten und der Kälte trotzten. Hier ist es ähnlich. Fenster und Türen der Hotelzimmer schliessen nicht richtig und die vielen Touristenrestaurants verzichten häufig gänzlich auf Fenster, sind eigentlich überdachte Veranden, einzig vor dem Regen ist man geschützt. Chinesen tragen hingegen nicht dicke primitive Mäntel, sondern sind im allgemeinen mit westlichem Chic angezogen, besonders in den Ferien. Eine Regenjacke vielleicht. Und die wenigen Naxi-Frauen in ihren speziellen warmen Trachten haben etwas ähnlich museales wie die Frauen in Berner Tracht bei uns.
Lijiang ist eine Stadt der Naxi, einer Minoritätengruppe des Südens. Und ist eine sehr beliebte Touristendestination bei den Chinesen, auf die ist man hier eingestellt. Es gibt eine Old Town, alles wirklich schöne Holzhäuser - allerdings nicht so sehr alt, das meiste wurde nach einem Erdbeben 1996 neu aufgebaut nach alten Plänen. Wie das in China die meisten alten Gemäuer sind, die Chinesen scheinen zwischen wirklich alt und nachgemacht alt keinen Unterschied zu machen, das freut sie beides genau gleich. Gute Kopien muss man sagen, häufig muss ich zweimal schauen, bis ich merke, ob ein Haus wirklich alt ist oder nicht. Und diese alte Stadt in den Bergen ist nun offensichtlich ein derartiger Touristenmagnet, dass es in den Gassen mindestens ebenso viele Leute hat, wie in einer dieser Millionenstädte zur Rushhour. Nichts von Stille und Beschaulichkeit in der Natur, die Chinesen lieben und brauchen wohl immer und überall Rummel und Lärm und andere Leute. Man fährt in Gruppen hin und ist bereit, den Organisatoren viel Geld dafür abzuliefern.
Als ich etwas an den Rändern dieses Rummelplatzes herum spaziere, stelle ich fest, dass noch laufend neue alte Naxi-Häuser gebaut werden. Und so zuschauend, kann ich eigentlich gar nicht mehr viel Schlechtes darin sehen. Immerhin geht so das alte Kunsthandwerk nicht verloren und wird immer noch praktiziert. Naxi-Häuser sind Holzkonstruktionen, die Pfosten sind rund, die Giebel du Balken werden reich mit abstrakten und abstrahierenden Motiven geschmückt und bemalt. Die Wände dann mit Ziegelsteinen ausgefüllt, die weiss verputzt werden.
Weniger gut ist, dass der grösste Teil dieser Naxi seit dem Erdbeben weggezogen ist. Ich will da nicht urteilen, vielleicht wurde ihnen ja auch von den Han-Chinessen soviel Geld geboten, dass sie fanden, damit anderswo etwas Besseres bauen zu können. So wie ich das in Sansibar gesehen habe. Die Leute verkaufen ihre alten Stadthäuser, deren Unterhalt zu viel Geld kostet und bauen sich etwas billiges Neues auf dem Land. – Überhaupt könnte man die Stone Town durchaus mit Lijiang vergleichen. Beide Städte werden momentan vom Tourismus überfallen. Wobei mir die Stone Town doch immer noch sympathischer ist. In Lijiang gibt es ausser Souvenirshops, Hotels und Restaurants überhaupt nichts mehr, ich glaube nicht, dass da noch jemand wohnt. Die Stone Town ist auch auf dem Weg dazu – allerdings noch lange nicht so weit. Und auch nicht so herausgeputzt, immer noch gibt es dort Ruinen, Häuser die zusammenbrechen, weil sich niemand darum kümmert, Unorte voller Abfall. Hier in Lijiang ist von Zerfall keine Spur, alles fast etwas zu clean. Vielleicht wie Interlaken in der Schweiz überlege ich mir, nur viel grösser, Lijiang Old Town bedeckt ein mehrfaches der Fläche. Und ist auch klar von der übrigen modernen Stadt abgetrennt. Wie ein Museum. – Die Chinesen müssen sich in Interlaken sehr wohl fühlen. Oder auch in Zermatt. Gar nicht aber in Hinterfultigen.
Momentan wird die ganze Stadt mit Chrysanthementöpfen geschmückt, otausende stehen bereits herum. Und liebevoll werden die schweren riesigen Blütenköpfe mit feinen Holzstäbchen gestützt, der Regen, der seit drei Tagen andauert, bringt die Stängel zum biegen und einknicken. Auch Tagetes werden hingestellt und andere Blumen, doch die Chrysanthemen bleiben die Königinnen. Sie sollen ein langes Leben garantieren und sind Symbol der Reinheit. All dieser Schmuck ist für die nahenden Festtage gedacht. Am 1. Oktober wird das 60-ig jährige Jubiläum der Chinesischen Republik gefeiert. Und zwei Tage später ist der 9.9.des Mondjahres. Die Zahl 9 steht für die männliche positive Kraft Yang, weshalb der 9.9. ein gefährlicher und machtvoller Tag ist. An dem man am besten in die Höhe klettert, auf heilige Berge und Türme. Mir schwant Schlimmes. Wollen da wirklich noch mehr Chinesen anreisen?
Am verrücktesten finde ich übrigens die Gasse, in der beidseits Restaurants mit integrierter Disco und Tanzfläche platziert sind. Da diese Gebäude - wie ich bereits erwähnt habe - keine geschlossenen Räume sind, ist in dieser Gegend eine ungeheure Kakophonie von Musikstilen, alles wild durcheinander gemischt, zu hören. Und furchtbar laut. Aber das scheint Chinesen nicht zu stören. Ebenso sehe ich häufig in einer bestimmten Ecke eines Parks Musiker, die sich in ihren Instrumenten üben. Das Besondere daran: Sie spielen nicht alle am selben Stück, jeder übt einzeln an seinem. Doch suchen sie sich dafür nicht einen möglichst ruhigen einsamen Platz, sondern ziehen es vor, in Gruppen zusammen zu bleiben. – Ich denke, in sehr vielen Sachen, sind Chinesen einfach viel flexibler. Wahrscheinlich hören sie gleichzeitig den anderen zu während sie ihr Stück spielen. Oder können die andere Musik in ihrem Gehirn oben einfach ausblenden. Und sind damit in einer überbevölkerten Welt sicherlich überlebensfähiger als wir.
Doch zurück zum Anfang: Auf uns Langnasen hat man hier wirklich nicht gewartet. Unseren Wunsch nach Stille und Einsamkeit in der faszinierenden Bergwelt, den versteht man in den hiesigen Reisebüros nicht. Es hat zwar hier recht viele Westler, sehr viel mehr als ich normalerweise in Grossstädten angetroffen habe, doch denke ich, haben die meisten eine arrangierte Tour bereits in ihrer Heimat gebucht. Eher ältere und eher wohlhabende Touristen, die mit der hiesigen Bevölkerung kaum in Kontakt kommen und sich so nicht darüber ärgern müssen, dass man in den vielen Reisebüros Wünsche nach individuellen Ausflügen in einsame Bergdörfer einfach nicht versteht. Was mir das Reisen gewaltig erschwert. Ganz abgesehen davon, dass es seit drei Tagen herunterregnet, was meine Moral und Unternehmungslust zusätzlich dämpft.
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Es wird inzwischen viel über China geredet - aber wie! Leitender Gesichtspunkt der China-Berichte in der bürgerlichen Öffentlichkeit ist die Frage, was der Aufstieg dieses Landes für »uns« bedeutet. Der Eintritt Chinas in den freien Weltmarkt wird begrüßt und die Öffnung seines Marktes mit l ,3 Milliarden chinesischer Kunden stimmt uns enorm hoffnungsfroh; andererseits droht möglicherweise eine neue »gelbe Gefahr«. Denn dieses Mal tritt China an als kampfstarke wirtschaftliche Konkurrenz, die uns nicht nur mit ihren Dumping-Löhnen Teile des Weltgeschäfts abjagt und unsere Märkte überschwemmt, sondern längst zum organisierten Angriff auf unser Allerheiligstes, das technische Know-how des deutschen Mittelstands, geblasen hat. Politisch wiederholt sich die Ambivalenz: Deutschlands politische und ökonomische Elite verspricht sich durchaus einiges von der wieder erstarkten asiatischen Macht und den guten Beziehungen, die sie zu ihr unterhält. Andererseits registriert man in Berlin ebenso wie in Washington, dass man es mit einer zunehmend selbstbewussten Großmacht zu tun hat, die sich nicht so einfach einordnen und für eigene weltpolitische Interessen benutzen lässt. Bestürzt stellt man fest, dass die chinesische Führung eine Ansammlung »immer noch« ziemlich »kommunistischer Betonköpfe« ist, damit befasst, ihrem Volk Demokratie und Menschenrechte und dem Dalai Lama »sein Tibet« zu verweigern. Von der Öffentlichkeit abgeschottet, beschäftigt sie sich mit undurchsichtigen Intrigen und Konkurrenz um die Macht im Land, zu der bisher weder Oppositionelle noch westlich gesponserte NGOs Zutritt bekommen. Dass ihr das bisher ziemlich unangefochten gelingt, nötigt dann umgekehrt schon wieder Respekt ab. Es ist also eine ziemlich üble Mischung von Ignoranz, Feindschaft und Begeisterung, die das Urteil der bürgerlichen China-Beobachter kennzeichnet.
AntwortenLöschenRenate Dillmann, China, Hamburg 2009, isbn 978-3-89965-380-9, S.9