Mittwoch, 30. September 2009




27. September, Lijiang

Heute habe ich Mr. Guo getroffen. Der kam gerade im richtigen Moment. Ob ich einen Führer brauche? Eigentlich schon, ist ja klar, der gängige Tourismus kann meine Bedürfnisse nicht befriedigen und Informationen für individuelles Reisen sind schwer zu erhalten, ich habe noch nicht einmal eine brauchbare Karte der Gegend gefunden. Ich schaue Mr. Guo an und habe sofort Vertrauen in ihn. Ein älterer grosser extrem hagerer Mann mit fein goldgerandeter Brille. Als er mir Fotos von sich und Touristen beim Trekking in den Bergen zeigt, glaube ich ihm das sofort, er sieht extrem zäh aus. Mr. Guo war Lehrer und ist jetzt 62 Jahre alt. Und frei herumzureisen, wie er erwähnt, seit seine Frau gestorben sei und sein Sohn in Wuhan arbeite. Zu Hause würde er krank. Er ist Han-Chinese. Woher er wirklich kommt wird mir nicht klar.

Ich mache ihm verständlich, dass ich nicht in die hohen Berge hinauf will, weil es mir bereits hier im Tal viel zu kalt ist. Aber vielleicht würde er mich ja auf eine Fahrradtour in die Dörfer ringsherum begleiten. Die nicht ganz so touristischen. – Mr. Guo ist kein guter Radfahrer, das gesteht er mir gleich, er sei schon lange nicht mehr auf ein Rad gestiegen. Er fährt dann auch sehr zögerlich aus der Stadt hinaus, die zusammen mit der Neustadt, auch bereits 200’000 Einwohner hat. Am Abend aber fühlt sich auch Mr.Guo auf dem Rad wieder sicher. Und begriffen hat er von Anfang an, was ich eigentlich suche. Führt mich erst in ein ganz verstecktes kleines Dorf, wo wir von einem alten Ehepaar in ihr Gehöft hereingelassen werden und zum Tee eingeladen. Nein, Kind, das wohne keines mehr zu Hause, die seien alle in der Stadt. Und würden gutes Geld verdienen. Das Gehöft ist zwar alt und etwas verlottert, doch blühen im Hof viele Blumen in Töpfen, etwas, das mir bei allen Naxi-Häusern auffallen wird, auch eine Satellitenschüssel für das Fernsehen gibt es – dies ebenfalls normal auf dem Lande. Mr. Guo klärt mich auf. Erst vor gut 5 Jahren, da sei der Tourismus in Lijiang wichtig geworden und seither seien eben viele Leute damit reich geworden. Und jetzt wollten alle auch ein Stück vom Kuchen, selbst unser 80ig jähriges Ehepaar spricht davon, noch ein Gästehaus aufzutun. Zusammen mit den Kindern. Und Mr.Guo meint, bis in 5 Jahren, da sei es wohl in diesem Dorf gleich wie in den meisten übrigen. Ich möchte wissen, ob ihn dies stört. Mr. Guo zögert etwas. Nein, meint er schliesslich, seit fünf Jahren habe sich der Lebensstandart der Leute sehr gehoben. Sie hätten nun auch Geld, ihre Kinder an Universitäten in Peking oder Shanghai zu senden, die meisten Jungen wollten sowieso fort. Und ja, ein Problem sei das schon, dass dann nur noch die Alten hier blieben. – Die alten Naxi, denke ich. Denn gleichzeitig mit dem Tourismusgeschäft ist auch eine grosse Welle von Han-Chinesen neu in diese Gegend gekommen. Die Naxi waren ursprünglich Bauern, sind es immer noch, aber nun eben auch auf den Geschmack gekommen.

Auf dem Weg zum Dorf fahren wir durch Felder voller wild wachsender rosaroter und weisser Kosmeen. Und fast in jedem Feld sitzt ein westlich gekleidete Brautpaar. Hochzeitsfotos in toller Umgebung sind sehr beliebt. Auch in dem romantischen Teil von Suzhou wurde eifrig posiert und fotografiert. Von Profis, da reist ein ganzen Team mit, das lässt man sich etwas kosten.
Kosmeen gibt es bei uns nur in den Gärten, doch viele wild wachsende Pflanzen hier kommen mir sehr bekannt vor. Ein kleiner, leuchtend blau blühender Rittersporn wächst auch in der Schweiz, verschiedene Asterarten sehe ich, weiss wollig behaarte Buddlejas, die blassblaue Blütentrauben haben und Brennesseln kriege ich auch zu spüren.
Die Vegetation gleicht derjenigen des Tessins, auch Palmen sieht man, allerdings nicht in der Natur, Passionsfrüchte, Camelien und Pfirsichbäume. Nebst weniger anspruchsvollem wie Nussbäumen, Äpfeln, Birnen und Zwetschgen. Die Hauptfeldfrucht ist der Mais.

In Sachen Tiere sind wir ebenfalls fast in der Schweiz, die Kühe sind nicht mehr schwere Wasserbüffel sondern gleichen eher unserem Simmentalervieh, Pferde, Esel, Schweine, allerdings sieht man nur die Ferkel herumspringen. Die alten Säue hört man in den Gebäuden grunzen und man riecht sie auch beim vorübergehen. Die würden mit den überall wild wachsenden Kürbissen und auch mit Maisbrei gefüttert, belehrt mich Herr Guo. Doch, die Menschen würden das auch essen, manchmal, die Maiskolben vor allem frisch gekocht. Und verkaufen: Für zwei Kilo Mais kriege man ein Kilo Reis.

Auffällig ist vor allem, wie vieles hier noch in Handarbeit erledigt wird. Frauen, die mit riesigen Fudern von Raps auf dem Rücken ins Dorf kommen. Und Männer, die mit den Babys auf dem Rücken herumspazierten. Die Naxigesellschaft sei eben immer noch von den Frauen dominiert. Fast die Hälfte der Männer gehe keiner Arbeit nach und kümmere sich um die Kinder. Diese matriarchalische Gesellschaft ist eine Besonderheit auch hier in China. Später werden wir noch einer jungen Frau zuschauen, wie sie mit einem Schlegel den Raps drischt. Ungefähr 2 Stunden sei sie an solch einem Haufen, weiss Mr.Guo zu berichten. Doch, er habe das auch schon gemacht meint er weiter. Als junger Mann, da sei er auf dem Land gewesen. Ich schalte sofort, 62ig jährig, da war er während der Kulturrevolution von 1966 bis 70 Student. Und wurde aufs Land abkommandiert. Ich nehme mir vor, ihn später bei Gelegenheit darüber auszufragen. Das ist für die Leute auch heute noch ein schmerzliches Thema. Mr.Guo spricht übrigens gut Naxi (Naschi ausgesprochen), eine eigene Sprache, die sogar eine Schrift entwickelt hat, eine Piktogrammschrift, die er mir noch an Beispielen erläutern wird. Mit etwas Phantasie versteht man mindestens einen Teil der 1500 bildhaften Schriftzeichen.

Die alte Naxi-Frau führt mir noch ihre Tracht vor. Sehr bequem und warm, stelle ich fest. Über dem Rücken ein Schaffell, die Haut gegen aussen gekehrt. Bei den Armen stehen eine Art Flügelansätze vor. Oben ist das Fell aussen mit blauem Stoff überzogen, das bezeichne den Himmel, der untere Teil ist die weisse Haut, Sinnbild für die Erde, erklärt sie mir. Und dazwischen runde Kreise, die Sterne, an denen Lederbänder befestigt sind. An Indianerkleider erinnert mich das.
In einem weiteren Dorf haben wir Gelegenheit, einer Gruppe von älteren Frauen zuzuschauen, wie sie ihre alten Tänze üben. Für den Nationalfeiertag meint Mr. Guo. Die Frauen scheinen sich nicht immer ganz einig zu sein, wie die Bewegungen auszuführen seien, beständig wird unterbrochen und es gibt ein lautes Palaver. Schade finde ich, dass nun fast alle Frauen die blaue Maokappe adoptiert haben, die ist sehr beliebt hier – wie Mao überhaupt, in Lijiang gibt es zwei riesige Skulpturen von ihm, immer noch. Schade deshalb, weil die traditionellen, ebenfalls blauen Kopfbedeckungen eigentlich viel schöner sind.

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