Dienstag, 22. September 2009








Suzhou 2009-9-09

Gestern Mittag sind wir bei melancholisch herbstgrauem Himmel oder Smog, mir ist das nicht so klar, hier in Suzhou angekommen. Der Schnellzug braucht eine halbe Stunde von Shanghai her, beidseits der Geleise wird gebaut, vor allem Strassen, vielleicht auch Zugtrasses, meist auf Stelzen, und führen ins Nirgendwo. Doch man plant Grösseres, das ist klar. Richtig slumartige Strukturen, wie um andere Städte herum, gibt es nicht, weiterhin entweder riesige Hochhäuser oder noch kleine ein- bis zweistöckige Häuser mit Gärtchen, den überall sehr häufigen Flussläufen entlang. Gemüsebau auch immer wieder dazwischen. Im Wagen ist es eisigkalt hinuntergekühlt, was hier Weichklasse genannt wird entspricht unserer 1.Klasse, Zugkompositionen Stil TGV, auch hier sind uns die Chinesen um nichts hintennach. Im Gegenteil: Das Besteigen der Züge gleicht einem Boarding im Flugzeug. Sicherheitscheque wenn man den Bahnhof betritt, dann Wartehallen für die einzelnen Züge, dann geordneter Einstieg, jeder hat seinen nummerierten Platz.

In Suzhou – eine Millionenstadt auch sie, meine romantische Idee, hier in einem Städtchen zu landen schwindet rasch – bringt uns der Taxifahrer in die lauschigste Ecke weit und breit. Ein geschütztes Quartier mit gepflasterten Fussgängergassen entlang eines Kanales, alte, gebogene Steinbrücken überqueren diesen und gesäumt wird er von Alleebäumen. Alles alte, niedrige Häuser, dick mit grauen Ziegeln gedeckt, meist an den Ecken aufgeschwungenen Dächer, kleine Hinterhöfe. Ich bin begeistert von dem Ort und auch mein Hotelzimmer ist allerliebst. Zwar winzig, aber mit alten dunklen Holzmöbeln möbliert, die sich in dem neu renovierten hochgiebeligen Raum sehr gut machen. Das Badezimmer ist modern, eine Toilettenspülung wie bei uns in den Schnellzügen und die Deckel im Lavabo, die das Wasser zurückhalten, sind von einer derartig genial einfachen Idee, dass ich mich frage, weshalb dies uns in Europa nie in den Sinn gekommen ist. Ein perfekter Ort zum Verweilen. Höchste Technologie auch hier, obwohl das ganze unter „Youth Hostel“ läuft und in der mittleren Preisklasse liegt, ich bezahle für das Zimmer rund 25.- Franken. Kein Schlüssel mehr, das Zimmer wird mit einer elektronischen Karte geöffnet, die gleich auch den Strom einschaltet, einzig die knarrende, etwas sperrende Türe kratzt etwas am Heiligenschein.

Ausgewählte Ausschnitte aus dem Ganzen wollen die klassisch chinesischen Gärten – wofür die Stadt bekannt ist – zeigen. Daran erinnert mich auch das Glück, genau in diesem Quartier ein Hotel gebucht zu haben. Die Stadt ist im allgemeinen nicht wahnsinnig schön, was ich beim ersten Spaziergang rasch merke. Gleich einsamen Inseln im grossen grauen Einerlei sind die wenigen erhaltenen alten Teile der Stadt eingestreut. Zum Glück viele grüne, Schatten spendende Alleen, viele Kanäle auch, doch selbst wenn es im Zentrum keine Wolkenkratzer hat, so ist doch das meiste eher mässige kommunistische Einheitsarchitektur. Meist wird eine Serie Häuser von einer Mauer umgeben, und kann nur von einem Eingang her betreten werden. Das, was man im Englischen „compound“ nennt. Hier dient es wohl zur Kontrolle der Leute, am Eingang steht immer ein Wachmann, der so den Überblick hat, wer hinausgeht und wer hereinkommt. Die Fassaden sind im allgemeinen weiss, mehr oder weniger schmutzig, häufig in Quader geteilt, es scheinen Fassadenplatten zu sein, manchmal auch kleinere weisse Plättli. Und überall und riesig Leuchtreklamen, etwas amerikasüchtig sind sie ja schon. Mit schnörkeligen chinesischen Verzierungen immerhin. Und natürlich in ihrer wundervollen Schrift, einer Zierde an und für sich.

Als ich heute Morgen vor acht Uhr früh das Hotel verlasse, um vor den Führern mit Megaphon in den Gärten zu sein, werde ich von einer unglaublichen Menschenmasse umflutet. Auf der Fussgängerstrasse fahren tonnenweise Velos und Motorräder und eine Art geräuschlose Elektrozweiräder, bei denen nicht pedalt wird. Unheimlich geräuschlos flitzen die herum. Als ich die sechspurige grössere Strasse überqueren will glaube ich das kaum. Beidseits der Autospuren noch breite, abgetrennte Bahnen mit diesen Zweirädern, die noch abenteuerlicher als die Autos durch die Strassen flitzen. Bis das alles überquert ist! Doch der Verkehr hier hat etwas ganz besonderes und unerklärliches an sich. Rasch und sehr bestimmt, konzentriert auch, bewegen sich alle chaotisch durch das Gewühl. Viel Hupen zwar, doch sieht man kaum Drängeln, auch selten brüskes Abbremsen, die Verkehrsteilnehmer scheinen sich wie negative Magnete abzustossen, aus unerfindlichen Gründen immer nur knapp zu touchieren. Und merkwürdigerweise einmal konzentriert im Menschenstrom, klappt das auch bei mir ganz gut. Man darf einfach nie abbremsen. Nur ganz selten sieht man einen Zweiradfahrer abstehen, meistens geht das ohne.

Kinder sieht man wenige. Das ist etwas ganz Auffälliges hier in China und sehr gegensätzlich zu Afrika. Die 1-Kind-Politik hat ihre Wirkung gezeigt, auch wenn man nun wieder zwei Kinder haben darf, denn ein drastischer Bevölkerungsrückgang ist nicht einfach zu bewältigen. Behinderte Leute sieht man kaum, wie wollten die auch in dieser raschen und entschlossenen Gesellschaft überleben, unmöglich da aus dem Hause zu gehen. Alte Leute, die man draussen sieht, sind rüstig. Chinesen kümmern sich sehr um ihre Gesundheit. Auf den Speisekarten steht häufig nebst einer poetischen Beschreibung der Speisen auch etwas über ihren gesundheitlichen Wert. Leibesübungen machen sie gerne und ungeniert in der Öffentlichkeit. Hier in Suzhou sehe ich Gruppen von Frauen des Morgens, aber auch nach der Arbeit am Abend unter Anleitung auf öffentlichen Plätzen, auch kleinsten, wo es eben gerade geht, zu Musik rhythmische Übungen machen. Tai Tshi ist das nicht, das sieht europäischer aus, eine Art Tanz, doch jeder alleine und in ordentlichen Reihen simultan. Hier sind es nur Frauen, die Männer sind manchmal Zuschauer.

Zurück zu den berühmten Gärten von Suzhou. Diese Gartenpaläste sind wunderbar, viele schon sehr alt - Chinas Kultur hat vor 6000 Jahren begonnen – und von exquisitem Geschmack, ich habe noch selten so etwas Schönes gesehen. Nicht dass sie voller Blumen wären. Jetzt ist auch nicht Saison, das ist wahr, doch brauchen diese Gärten eigentlich gar keine Blüten, ihr Zauber liegt in der exakten Komposition. In den Gegensätzen auch, lese ich, Licht und Schatten, natürlich und künstlich, weich und hart, Wasser und Fels. Und den Abgrenzungen. Die Anlagen sind in einzelne, labyrinthartig durch Mauern begegrenzte, hofartige Räume eingeteilt. Fenster, mit kunstvollen Gitterstrukturen, geben den Blick in angrenzende Gartenräume frei. Ausschnitte immer nur und immer wieder anders. Dazwischen kleine Paläste mit geschwungenen Giebeln, die hölzernen Fenstergitter wurden früher im Winter mit Papier überzogen, damit die Kälte draussen blieb. In vielen der Häuser findet man auch noch die ursprüngliche Einrichtung. Und erst jetzt realisiere ich: Das ist ja Jugendstil! Beziehungsweise hat der Jugendstil ganz bestimmt und offensichtlich von der chinesischen Kultur abgekupfert. Und wir Westler beklagen uns immer, dass die Chinesen uns alles kopieren würden! Vor gut hundert Jahren war das bestimmt umgekehrt. Die ganze Ornamentik, häufig sehr abstrakt, extrem elegant auch, findet man doch fast genau gleich im Jugenstil wieder. Ein Kuriosum sind die, aus Wurzelstöcken geformten Sessel, die etwas wuchtig natürlich gewachsen wirken sollen. Etwas ganz Ähnliches habe ich bei den, zwar aus Beton gearbeiteten, Zaungeflechten in Biarrizz gesehen, die vorgeben, aus knorrigen Ästen geformt zu sein. – Ich bin wohl die Einzige, die nichts vom Zusammenhang zwischen chinesischer Kunst und Jugendstil gewusst hat, jetzt sind mir wie Schuppen von den Augen gefallen.

Ein Faible hatten die chinesischen Gärtner für originell geformte Felsbrocken, die teils zu ganzen Bergmassiven aufgeschichtet wurden. Die Steine hier in Suzhou, häufig durchlöchert, sollen ausgewählt und grob geformt worden sein, um dann noch jahrelang in der Tiefe eines Flusses ihre „natürliche“ Endform zu erlangen. Nebst Felsmassiven ist für einen chinesischen Garten Wasser unabdinglich. In den Wasserflächen eines Teiches spiegelt sich die sorgfältig komponierte Landschaft gleich nochmals. Auch die Pflanzen selber, meist Bäume, viele skurril geformte Kiefern und andere Nadelbäume, Kirschensorten und tropische Laubbäume, aber auch Bananenstauden und natürlich Bambus, haben selten ihre natürliche Form. Da hat der Gärtner formend eingegriffen. Häufig findet man auch Riesentöpfe mit eigentlichen Bonsais, die geschickt im Garten verteilt stehen. Nebst Bäumen hat es verschiedene Büsche, Granatäpfel etwa sind beliebt, auch Oleander und Azaleen, Rosen manchmal, Kletterpflanzen und als Bodendecker dort, wo nicht Fels oder kunstvolle Pflasterung ist, vor allem grasartig Aussehendes, eine Art Scillas, da muss im Frühjahr eine Blütenwolke sein.

Ein weiteres Merkmal der Gärten sind die zickzack in rechten Winkeln über Teiche und Flussarme laufenden Brücken. Oder auch die Wände, die gleich nach einem Eingang auftauchen können und rechts oder links umlaufen werden müssen. Wegen der Dämonen heisst es. Die sind nämlich dumm und können nur geradeaus laufen. Fügt man also harte Ecken in den Weg ein, so hindert dies die bösen Dämonen am Durchgang.

Über das Grillenzirpen. Die Parks sind voll davon. Mich erinnert das immer an Ferien am Mittelmeer. Es muss auch für Chinesen etwas Schönes sein. Sie holen sich dieses Glücksgefühl ins eigene Haus und halten in winzigen Käfigen zirpende Grillen. Genauso wie ich auch schon Fische in winzigen Gläsern gesehen habe oder Hunde und Katzen und Vögel in Käfigen, in denen sie sich kaum drehen können. Immerhin gehen die Chinesen dafür mit ihnen Spazieren, bringen Vögel und Grillen in Parks und auf die Strassen. Ob die das so lieben ist zweifelhaft.

Während der Kulturrevolution waren Haustiere verboten. Katzen und Hunde galten als bourgeois und Überbleibsel aus einer überholten Zeit. Sie wurden getötet. Auch Gärten und Parks galten als bourgeois und veraltet, sie wurden zerstört und selbst vor Topfpflanzen gab es keinen Halt. Genauso wie alle Kunst, Bilder, Schriftbänder und alles was aus dem Westen kam. Ein Wunder eigentlich, dass doch noch etwas von dieser riesigen Hochkultur, die doch erst vor rund 150 Jahren erloschen ist, noch überlebt hat.

Heute scheinen die Chinesen einen Nachholbedarf zu haben. Pflanzen sind sehr beliebt und werden gehegt. Auch Haustiere gibt es wieder, Katzen und immer mehr Hunde, jedoch meist kleine. Doch für die Tiere scheinen sie keine denen entsprechenden Gefühle zu entwickeln, mindestens sehen wir das so. Die Pflanzen wachsen zwar sehr gut und üppig, doch haben die Chinesen auch zu ihnen ein anderes Verhältnis als wir. Die Pflanzen sind ästhetisches Rohmaterial, werden geformt und gezielt eingesetzt. Eigentlich nicht mein Geschmack. Doch das Resultat, die Gartenanlagen, das muss ich zugeben, sind überwältigend.

2 Kommentare:

  1. »Und wir Westler beklagen uns immer, dass die Chinesen uns alles kopieren würden!« wir westler sind nicht allein eingebildet, sondern auch ziemliche ignoranten und haben keinen schimmer von einem land, riesengross, das vor 700 jahren zwar Marco Polo besucht hat, aber die europäer (venezianer) konnten es nicht fassen und haben den tapferen Marco dann noch mal in die Piombi eingesperrt. Immer noch nicht haben wir eine ahnung von diesem kontinent und seiner 3000 jährigen geschichte… Moritz

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  2. »Unheimlich geräuschlos flitzen die herum.« Fehlt hier der lärm, muss unheimliche stille entstehen. M=info

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