Montag, 12. Oktober 2009







Dali, 8. Oktober 2009

Die Stadt Dali ist keine perfekte Schönheit, eine mit Ecken und Kanten. Innerhalb der Stadtmauern, die eine riesige Fläche umfassen, gibt es wohl noch einige alte Gebäude, doch auch recht viele lieblose, aber nicht allzu grosse Wohnhäuser aus kommunistischer Zeit. Im Zentrum ein Kreuz von Strassen, die touristisch aufgemotzt worden sind, aufgewertet, würde das wohl heissen, neue Häuser im alten Stil ersetzen das Charakterlose, Läden und Reisebüros und Restaurants sind hier eingezogen, Hotels und Gasthäuser. Doch dies ist erst eine kleine Ecke, die sich aber wie ein Krebsgeschwür auszudehnen droht. Momentan lebt Dali noch, ist kein Ethnokitsch-Freilichtspektakel wie Lijiang. Sobald man aus diesem Zentrum heraus ist, beginnt das normale Leben, Handwerker haben sich angesiedelt, Garküchen immer, viele, aber sehr einfache, und Läden mit Werkzeug, mit Baumaterial oder mit Haushaltsgegenständen. In einer Strasse weit draussen werden gerahmte polierte Marmorplatten verkauft, eine Kunstform, die mir für China ganz eigen scheint. Auf diesen Steinstücken bildet die Maserung etwas wie eine Landschaft ab. Abstrakte Muster eigentlich, vom Zufall bestimmt, doch es ist wahr, man sieht sofort mehr darin, die wunderlichsten Bilder treten hervor.
Auch in Dali wird überall kräftig gegraben und gebaut, ganze Strassenzüge werden umgekrempelt, Leitungen verlegt, ich sehe nebst Abwasserleitungen auch mehrere dicke Kabelrohre für Glasfaserleitungen, und am Schluss wird das ganze dann auf alt gepflästert. Bäche werden freigelegt, weit schöner als beispielsweise in der Altstadt von Bern. Sie fliessen offen am Rand der Strassen von von mit Steinquadern gefassten Mauern begrenzt, Dali liegt an einem flach geneigten Hang, das Wasser sprudelt dem See zu und wird dabei von vielen grossen, schön geformten und überhaupt nicht zufällig in das Bachbett gelegten Steinen geleitet. Daneben ein gepflasterter Fussweg, junge Trauerweiden wurden eingepflanzt.

China macht ganz gewaltige Anstrengungen in Sachen Verschönerungsaktionen. Vor allem hier in der Provinz Yunnan. Chinesen vom ganzen Land kommen, um ihre Sehnsucht nach Ursprünglichem zu stillen. Einzig hier, in der lange Zeit sehr abgelegenen Gegend mit vielen Minoritäten, Naxi, Bai und Yi, die Berge erschwerten den Zutritt, hat sich noch Altes erhalten können. Im übrigen China wurde während der Kulturrevolution Historisches zerstört als Zeuge einer bourgeoisen Zeit, die vorüber sei und vergessen werden solle. Alle Verschönerung galt als reaktionär. Die langweiligen Einheitsbauten - für alle dasselbe - wurden im grossen Stil aufgestellt und verdrängten in vielen Landesteilen die historischen Gebäude, deren Wert man nicht sah. – Doch nun scheint alles anders. China hat seine Geschichte wieder entdeckt und ist stolz darauf. Und hat offensichtlich einen riesigen Nachholbedarf. Zerstörtes wird munter wieder genau gleich aufgebaut, allerdings nicht immer mit den ursprünglichen Baumethoden, Theaterkulissen werden es dann, was mir nicht immer sehr geglückt erscheint. Ganz besonders in Yunnan, der Vorzeigeprovinz Chinas. Immerhin sehe ich in Dali doch erstmals Versuche, die alten Architekturstile neu zu interpretieren, mit modernen Gestaltungselementen zu vermischen. Nicht alles gefällt mir, doch der Ansatz ist spannend.

Auch ich wohne hier in einem nachgebauten Bai-Haus. Das steht etwas abseits vom Zentrum hinter zwei Wohnblöcken im Sowjetstil, niedrig sind die zum Glück nur, der Fassadenputz ist bereits fast gänzlich abgeblättert. Und die Frauen waschen ihre Kleider und das Gemüse bei der Wasserstelle davor, wo mit Eimern Wasser aus dem Sodbrunnen gezogen wird. Offensichtlich gibt es in den Häusern kein fliessendes Wasser. Das Bai-Guesthouse grenzt zwar direkt und sehr nahe an dieses Quartier, doch der Baustil der Bai macht, dass es wie eine kleine Insel dazwischen steht. Die Bai bauen ihre Häuser nämlich immer um einen Innenhof herum, alle Fenster und Öffnungen sind auf diesen ausgerichtet und gegen den Hof zu gibt es Terrassen. Ich habe mein Zimmer auf dem obersten Geschoss gewählt, mit direktem Zugang auf die Dachterrasse und Blick zu den Bergen. Es ist ein sehr schöner Ort, ein alter Mann bringt immer seine Käfige mit den Singvögeln herauf, die zwischendurch extrem laut trällern, was ihn sehr zu bewegen scheint, oder er schnipselt mit einer Schere an den vielen und vielfältigen Topfpflanzen herum, die überall herum stehen. Das ist mir bereits bei den Naxi aufgefallen – deren Häuser übrigens sehr ähnlich sind – diese Menschen lieben Pflanzen ausserordentlich. Und Tiere ebenfalls – auch wenn uns diese Käfighaltung grausam erscheinen mag. Ich glaube nicht mehr, dass Chinesen grob zu Tieren sind, ich habe nie gesehen, dass sie diese Schlagen oder ihnen absichtlich Schmerzen zufügen, das ist eine falsche Vorstellung. Was hier hingegen fehlt, ist das Verständnis für Tiere, man fühlt sich nicht in sie hinein, versucht nicht wie wir, ihre Bedürfnisse zu verstehen und zu befriedigen. Doch absichtlich quälen, nein, das glaube ich nicht, Tiere sind ihnen wichtig. Und wenn ich die fetten Schweine in ihren Ställen, immerhin dick mit Stroh ausgelegt, gesehen habe oder auch manchmal, wie sie im Dorf etwas herumspaziert sind, dann hatte ich eigentlich immer das Gefühl, dass es denen besser geht als den Tieren in Zuchten bei uns. Weshalb ich Schweinefleisch auch ohne Bedenken esse, es schmeckt ganz ausgezeichnet.
Und die Fische, die in Becken mit sehr wenig Wasser auf dem Markt nach Luft schnappen? Chinesen lieben eben ihre Nahrung möglichst frisch, auch Hühner werden lebendig verkauft. Dass ein Fisch dabei leiden könnte, daran denken sie nicht. Dass auch ein Fisch Schmerzen oder Angst empfinden könnte. Hier sieht man sehr selten kranke und verletzte Hunde und Katzen in den Strassen, die meisten Tiere sind wohlgenährt und gesund – mindestens viel gesünder, als dass ich dies in Afrika oder Südamerika gesehen habe. Am schlimmsten ist es eigentlich mit Pferden und Eseln, die häufig von Sattel und Zaumzeug grosse offene Wunden haben. Doch auch hier, denke ich nicht, dass man dies Brutalität nennen kann, die Tiere werden nicht geschlagen oder absichtlich gequält.

Der Weg ist das Ziel, sage ich mir, als ich den Hang hinaufsteige, erst durch bewohntes Gebiet, später dann durch Gebüsch und Kiefernwälder, in Gabelungen immer dem breiteren Weg folgend. Hier ist es sehr schwierig zu planen, wohin man gehen will, denn etwas wie Wanderwege gibt es nicht. Zwischendurch allerdings – doch das ist eben auch nur in chinesischen Schriftzeichen angekündigt – kommen Waldstücke, die nicht mehr wirkliche Natur sind, es wurde eingegriffen, gerodet, geschnitten, grosse Steine eingesetzt und geschwungene gepflästerte Wege und Treppen angelegt. Ich bin in einen Hang geraten, der offensichtlich gestaltet wurde. Ein Restaurant steht irgendwo, ein paar moderne Häuser mit grossen Fenstern und Steinfassaden wie im Tessin, sind auf der Fläche verteilt, ich vermute, dass es sich um Ferienvillen handelt. Ich folge dem Pfad immer weiter, obwohl mir der Spruch von Laotse, ich bin im Moment daran, das „Tao Te King“ zu lesen, im Kopf klingt: Der Weg ist das Ziel. Es ist nicht wichtig anzukommen. Es ist nicht gut zu wollen, man muss den Dingen ihren Lauf lassen. Eigentlich sollte ich umkehren, ich habe keine Ahnung, wohin mich dieser Weg führt. Doch genau dies ist für mich schwierig, weiter und weiter hinauf will ich. Bis der Weg dann schliesslich in eine Holzplattform mündet und gerade vor einem Wasserfall mit kristallklarem Wasser aufhört. Ich habe das Ziel gefunden, das Umkehren fällt nun einfach.
Ich bin noch nicht reif für das Tao, das ist mir klar. Auch beim Zeichnen nicht. Wohl gelingt es mir in China merkwürdig gut, nicht zu wollen, in einer Art Automatismus, vielleicht auch Trance zu malen, ohne bewusst zu denken, genau so wie man ein Auto fährt. Und mich dabei wohl zu fühlen, es ist ein sehr angenehmes Gefühl, wenn das gelingt. – Nur ist es bei mir überhaupt nicht so, dass dabei die besten Resultate entstehen, wie dies Laotse postuliert. Erst wenn man nicht wolle, nicht kontrolliere, den Dingen ihren Lauf lasse, könnten geniale Sachen entstehen. Ich bin mir nicht sicher über diese Theorie. Wenn sie wirklich stimmt, dann bin ich mit meinen Talenten und Fähigkeiten eben noch meilenweit davon entfernt, ein Meister zu sein.

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