Freitag, 23. Oktober 2009


Luchun, 19. Oktober 2009
Ganz unbemerkt bin ich heute wieder aus tropischem Gebiet in gemässigte Zonen zurückgereist, erst heute Nachmittag fiel mir dies auf. Keine Kautschukplantagen mehr, nur noch wenig Tee, Bananen schon noch, doch nur einzelne Stauden, nicht mehr ganze Hänge voll, überhaupt weniger saftig grün, weniger wuchernd, Ockertöne dazwischen, erste Nadelbäume tauchen auf. Dafür nun steile Hänge voller schmalster Reisterrassen, die häufig noch unter Wasser stehen, die berühmten Terrassen von Yuanyuang, von den Hani erschaffen, beginnen vermutlich bereits hier. Die Dörfer zeichnen sich durch keinen charakteristischen Baustil mehr aus, einfache kleine Steinhäuser, auffällig ist eher die Lage der Siedlungen, meistens zuoberst auf einer Bergkrete oder einem vorspringenden Sporn. Dörfer mit Adlersicht. Auch Lüchun, die Stadt, in der ich heute übernachte.

Der Buschauffeur am Morgen steigt erst kurz vor der Abfahrt in den Bus ein, gesprächig ist er nicht. Ein Knabe erst, scheint mir, der ist doch keine 20 Jahre alt, hoffentlich macht der seinen Job recht. Der Junge blickt unter extrem langen und geraden Wimpern hervor mit einem sanftmütigen, aber entrückten und undurchdringlichen Blick. Wie eine Kuh, fast glaube ich seine Kiefer mahlen zu sehen. Die Augen sind stark schräg gestellt und schmal, den Mund hat er vom Lucky Look geerbt und meistens hängt auch eine Zigarette darin. Extrem ruhig fährt er den Bus durch den noch Nebel verhangenen Morgen, nichts schient ihn aus der Ruhe zu bringen, das sehe ich gut, denn heute habe ich den Sitz gleich neben dem Fahrer. Nach etwa einer Stunde Fahrt kommen wir durch ein Dorf, wo gerade Markt ist, buntes Treiben, das mich ganz merkwürdig an Szenen in Südamerikas Anden erinnert. Und die hier oft dunkelhäutigeren Leute mit den etwas kantigen Gesichtern gleichen den Indios, finde ich. Kurz nach der Ortschaft hört der Strassenbelag auf, eine glitschige rote Fahrbahn führt in engen Windungen den steilen Hügel hinab. Irgendeinmal fahren wir auf eine Kolonne stehender Lastwagen auf, auch Personenwagen hat es dazwischen, und unser Bus bleibt stehen. Wie bereits gestern, stelle ich fest, dass dies alle als willkommenen Toilettenstopp nutzen, doch diesmal habe ich gelernt und versuche anschliessend herauszufinden, was eigentlich los ist. Etwa hundert Meter weiter, hinter der nächsten Kurve, löst sich die Strasse definitiv in Schlamm auf, ein Erdrutsch muss kürzlich über die Fahrbahn geglitten sein, in beiden Richtungen stehen Lastwagen bis zum Bauch im Schlamm, für mich sieht die Situation ziemlich hoffnungslos aus, etwa sechs Männer sind mit Schaufeln und Hacken am Werk. Ein Durchkommen? Auch heute zeigen sich die Buspassagiere erstaunlich unbeteiligt, sitzen im Schatten am Strassenrand ab, die Sonne beginnt auf den Bus einzubrennen. Nach etwa einer halben Stunde fährt unser Fahrer ohne Ankündigung an, überholt all die wartenden Fahrzeuge und bleibt genau dort in der Spur stehen, wo die Reifen noch etwas Halt finden. Ich begreife dieses Manöver überhaupt nicht, immer noch sind beide Spuren blockiert und nun würde unser Bus auch noch das entgegenkommende Fahrzeug behindern, falls dieses sich befreien könnte. Doch offensichtlich hat unser junger Chauffeur etwas mehr gesehen als ich und wollte sich den ersten Platz sichern. Ungefähr 5 Minuten später schafft es der Lastwagen, der in derselben Richtung fährt wie wir, sich aus dem Schlamm los zu reissen, die Spur ist frei. Nun sehe ich unseren Fahrer auf die Leute mit den Schaufeln einreden, hier noch etwas mehr Erde, dort noch etwas, gibt präzise Befehle und testet den Boden mit seinen Füssen aus. Nach weiteren fünf Minuten fährt er den Bus mit gewaltigem Tempo, ich habe Angst, dass der sich dabei überschlägt, das viele Gepäck auf dem Dach kommt arg ins Schwanken, und schon ist er durch den Schlamm hindurch. Worauf er, noch immer auf sehr matschigem Boden, anhält und zurückfährt um dem Bus aus der Gegenrichtung, der ebenfalls im Schlamm feststeckt mit einem Seil hinaus zu helfen. Wenn das nur gut kommt, denke ich, das scheint mir eine heldenhafte, aber gewagte Tat. Doch meine Angst ist unbegründet, es klappt auf Anhieb, ich bin wirklich begeistert, solch ein Fahrer, das hätte ich ihm nie zugetraut. Wir steigen alle wieder ein und ich mache ihm ein Kompliment, natürlich auf Englisch, doch bin ich überzeugt, dass Komplimente international verständlich sind. Und denke auch, dass er verstanden hat, ich glaube ein winziges stolzes Glitzern in seinen Augen zu sehen, die sonst, wie das ganze Gesicht während der ganzen Fahrt völlig unbewegt bleiben. – Unsere Reise wird dann noch rund acht Stunden weitergehen, nicht mehr ganz so schlimm, doch vielerorts versperren Erdrutsche die Fahrbahn oder Bäche haben unheimliche Mengen von Geschiebe auf die Strasse verfrachtet, oder Teile der Strasse sind abgerutscht. Entlang eines Flusses, der erst seit kurzem gestaut sein muss, wurde erhöht in den Hang eine neue Strasse gezogen, die bereits zu einem grossen Teil abgerutscht ist oder von Rutschen überdeckt. Trotz meinem riesigen Vertrauen in diesen Chauffeur, frage ich mich zwischendurch, wenn der Bus sich durch glitschigroten Boden malmt und der Abgrund gleich daneben gähnt, ob ich eigentlich soviel Abenteuer überhaupt gewünscht habe. Beim Mittagsrast in einem Busbahnhof in einem Städtchen im nirgendwo esse ich wunderbaren Reis mit Gemüse für fast nichts, unser Buschauffeur setzt sich vor den Fernseher und zündet sich eine Zigarette an. Und steht nach einer Viertel Stunde wieder auf, hupt laut, alle zurück in den Bus und weiter geht es, dazu braucht es keine Worte. Ich habe den Jungen den ganzen Tag nichts essen und kaum trinken sehen. Vielleicht stimmt ja der Buddhismus doch mit seiner Theorie, das nichts real sei. So ganz begriffen habe ich das ja nicht, (finde die Theorie auch sehr schwierig und frage mich, wie so viele Westler sich für diesen Glauben begeistern können; haben die das denn wirklich verstanden?) doch Körper und Geist scheinen mir bei diesem Wesen effektiv zwei getrennte Dinge, da ist nur Konzentration und Wille während dieser langen Fahrt, seinen Körper fühlt der Junge ganz offensichtlich nicht. Und hätte ich nicht zwischendurch sein lautes Spuken zum Fenster hinaus gehört - das scheint vor allem in den Bussen wirklich ein Volkssport zu sein - dann wäre ich in den schläfrigen Nachmittagsstunden nicht erstaunt gewesen, ich kämpfe mit dem Schlaf, alles wird halbwegs Traum, ihn in einer Kurve abheben und über die Wolken davon schweben zu sehen.

Gegen Abend hält der Bus in einer kleinen Stadt auf einem steilen Hügel oben. Luchun ist erreicht, eine weitere Stadt, die es in keinen Reiseführer schafft, ich werde nochmals einen Tag benötigen, um mein Ziel zu erreichen. Nachdem ich mein Ticket für Morgen gekauft habe und mich die nette Verkäuferin auch gleich zu einem Hotel gebracht hat, genehmige ich mir ein heisses Bad, das erste wirklich heisse Wasser seit langem und das zweite Mal eine Badewanne. Zwei Tage nacheinander übernachte ich gleich neben der Busstation in einem chinesischen Hotel gehobenen Standards, ich mag nicht lange herumsuchen, morgen geht es sowieso weiter. Solche Hotels kosten in dieser Gegend 60 Yuan, also rund 10 Franken für ein Doppelzimmer. Sie sind riesig bemessen und mindestens drei Meter hoch, Tischchen, Sessel, Schreibtisch und natürlich Fernseher sind vorhanden. Und im Badezimmer eine europäische Toilette, einfache chinesische Hotels haben normalerweise ein Plumsklo, und statt einer Dusche darüber, daneben eine Badewanne. Einziger Makel: das Internet kann ich hier vergessen. Im weiteren ist für diesen Typ Hotel, selbst in gehobenen Klassen, auffällig, das meistens höchstens zwei Drittel der Lampen funktionieren – der Fernseher immer, das gäbe sonst Probleme - und dass sowohl in den Badetüchern, wie in den Kissenbezügen durchaus Löcher vorkommen können. Falls es Spannteppiche hat, so sind die leicht schmuddelig, worüber ich nicht mehr staune, denn die Angestellten versuchen mich immer davon zu überzeugen, dass ich ruhig die Schuhe anbehalten könne, wenn ich ein Zimmer besichtigen gehe. Die Nase muss oft mit Kanalisationsgeruch oder abgestandenem Zigarettenrauch, der in den Spannteppichen und Vorhängen kleben bleibt, leben können. - Doch über den Preis darf man nicht klagen, selbst ein einfaches Hotel, das sich auch an ein westliches Publikum richtet, kostet rasch das Doppelte.

Luchun ist eindeutig wieder eine chinesische Stadt, merkwürdig, wie Klima und Bewohner übereinstimmen. Eine hässliche Stadt, trotz ihrer Lage mit sensationellen Ausblicken auf die terrassierten Hügel ringsherum. Protzige Gebäude in kommunistischem Monumentalstil verunstalten das Stadtbild, entlang der Hauptstrasse auch hier eine riesige Bautätigkeit, sehr dicht wird gebaut, der wenige flache Boden will gut genutzt sein, schon bald fällt beiderseits der Hauptstasse das Terrain steil ab, das Bauen wird aufwändig. Ein Quartier der Stadt besteht aus einer Kaserne, ich bin dort nicht erwünscht. Wohl deshalb die protzigen Regierungsbauten, die Chinas Präsenz hier auf eine penetrante Art markieren. Haben die Hani, die von den Dai aus den fruchtbaren Ebenen und Hügelgebieten des Südens in die steilen Berghänge hinauf vertrieben wurden, wo sie ein meisterhaftes Können im Bau von Reisterrassen selbst an den steilsten Hängen entwickelten, sich wohl diesmal gewehrt gegen die neuen Besatzer, dass sie derartig stark mit Militär beglückt wurden?
Ein witziges Detail. Als erstes bemerke ich, dass auf der Hauptstrasse offene Elektrobusse verkehren, wie dies an allen touristisch erschlossenen Plätzen der Fall ist. Ich bin etwas erstaunt und denke, dass die chinesische Tourismusindustrie wohl bemerkt hat, dass atemberaubende Reisterrassen auch in Luchun zu haben sind. Später stelle ich jedoch fest, dass es sich nicht um Touristen, sondern um normale Bewohner handelt, die Elektrobusse scheinen ein Stadtbusnetz zu ersetzen, was angesichts der Grösse des Ortes durchaus sinnvoll ist. - Westliche Touristen scheinen hier selten vorbei zu kommen, ich falle auf, doch sind die Bewohner weit zurückhaltender als in den vorigen Orten.

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